Dame in Weiß. Helmut H. Schulz

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Dame in Weiß - Helmut H. Schulz

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sagte sie: »Könnt ihr denn nicht die Zeit abwarten? Ihr werdet mich sowieso bald los.«

      »Niemand will dich loswerden, Barbara«, erwiderte meine Mutter, »das wird allmählich zur fixen Idee bei dir. Du willst anders leben als wir, etwas anderes sein, und du verletzt dabei dauernd unsere Gefühle - von mir will ich nicht reden.«

      Meine Tante Gusti trug glatt gekämmtes Haar hinten einen Zopf, Dirndlbluse und bestickten Rock. Meine Mutter Verena trug an diesem Tag ein graues Kostüm mit vielen Glocken und Falten; sie gab acht, dieses Kleidungsstück nicht zu drücken. Nur meine Tante Barbara sah aus wie eine Schlampe. Ihre Fingernägel waren kurz geschnitten und die Hände farbfleckig.

      »Könnt ihr mir sagen, was dem Alten die paar tausend Mark nutzen«, fragte sie. »Es ist nicht so, dass ihr mich aus Berlin weghaben wollt?«

      Die Schwestern gaben keine, Antwort.

      »Also ist es so?«

      Meine Tante Gusti sagte: »Ich kann dich überhaupt nicht verstehen, Barbara.«

      »Jedenfalls habe ich damit gerechnet, hierher zurück zu können, wenn ich nicht mehr dienstverpflichtet sein sollte, das heißt, wenn dieser Krieg einmal ein Ende hat. Ich brauche diese Räume für meine Arbeit. Das wisst ihr gut.«

      Meine Mutter sagte: »Dann kauf doch das Haus.«

      »Ich soll für etwas zahlen, das mir zusteht? Das ist nicht dein Ernst, Rena.«

      »Aber ja, was heißt zusteht, dir steht der vierte Teil des Hauses zu, nicht das ganze Haus, falls Vater stirbt, woran ich gar nicht denken will. «Meine Tante Barbara schüttelte den Kopf. »Wer verkauft denn in diesen Zeiten ein Haus, wo das Geld kaum noch was wert ist?«

      »Was meinst du mit diesen Zeiten?«

      Alle schrien durcheinander, und später gaben sie sich zum Abschied nicht die Hand. Ich hielt meiner Tante Barbara die Rechte hin - sie sah mich prüfend oder misstrauisch an.

      Das Realgymnasium hatte uns Jungen verschluckt. Wir stöhnten unter der Stofflast und unser soziales Bewusstsein unterschied uns von den Volksschülern. Unsere Schulwelt war von Doktoren und Oberlehrern, von Studienräten und Rektoren bevölkert. Unsere Schule nahm Kinder aus allen Stadtteilen auf, und so bildeten sich von Anfang an Gruppen, die sich kannten und zusammenhielten. In der Mitte der drei Bankreihen saßen wir, Schott, Jendokeit, Bruchner, Goll und ich. Der Begriff Ordinarius wurde durch den Begriff Klassenlehrer ersetzt, die lateinischen Bezeichnungen der deutschen Grammatik verschwanden und machten neuen Wörtern Platz, aus Substantiv wurde Dingwort, aus Artikel Geschlechtswort. Allerdings lernten wir eine neue Schriftsprache, die lateinische. Bisher hatten wir Sütterlin geschrieben, eine Schrift, die mein Vater meisterhaft beherrschte.

      Unser Klassenlehrer hieß Doktor Wetter, Schott taufte ihn Unwetter, über seine Wange liefen zwei lange Durchzieher. Er unterrichtete Deutsch und Geschichte, ließ sich jedoch in seinen Freistunden, wenn wir Sport hatten, im Fechtanzug sehen und trainierte sich.

      An Neusprachen gab Doktor Nitschmann Englisch und Herr Kossack Französisch. Wir hatten Latein, kein Griechisch, aber Mathematik, nämlich die Anfangsgründe der Algebra. In den unteren Klassen unterrichtete Rektor Karnow Mathematik und Physik. Zu Staatsfeiertagen erschien die Mehrzahl der Lehrer wie wir in Uniform, ausgenommen die Frauen.

      Mit Kriegsanfang hatten wir unser Auto verkaufen müssen; alle Autos gingen in die Hände der Wehrmacht über, es wurde aber eine Taxe bezahlt. Einige Fahrzeuge blieben zugelassen, im Laufe der Zeit erhielten sie Holzgasöfen. Die mussten zeitig angefeuert werden, sollten sie zur gewünschten Zeit funktionieren.

      Hin und wieder flogen einzelne britische Flugzeuge über Berlin, es fielen auch Bomben. Wir pilgerten zu den Ruinen der Häuser, die getroffen worden waren. Bei den Luftschutzübungen erfuhren wir, welche Typen von Bomben mit welchen Maßnahmen wirksam bekämpft werden konnten; Stabbrandbomben mit Aufschlagzünder, mit verzögertem Aufschlagzünder gab es, mit mehreren Sprengsätzen, Sprengbomben, gegen die wenig zu machen war. Im Verlaufe des ersten Kriegsjahres waren die Böden der Häuser entrümpelt und die Holzverschläge beseitigt worden, sodass die Böden leicht zu übersehen waren. Die Keller wurden zu Luftschutzunterkünften umgerüstet; es geschah eigentlich gar nichts, nur wurden eiserne Türen eingesetzt. Man durchbrach die Kellerräume von Haus zu Haus, um Fluchtwege zu schaffen. Die Luftschutzhelfer und ihr Chef, der Luftschutzwart, besaßen Helme und eine Feuerspritze, Eimer und Löschsand, es gab Erste-Hilfe-Ausbildungen und Kästen mit Verbandszeug. In die Keller stellten wir alte Stühle, Sessel oder Sofas, Tische. Ernst nahm, keiner diese Maßnahmen. Von den Bunkern in Berlin schoss die Flak, am nächtlichen Himmel kreuzten sich die Lichtbündel der Scheinwerfer, suchten feindliche Kampfflugzeuge zu erfassen. Manchmal setzten die Flieger Leuchtkugeln, Weihnachtsbäume, die die Dächer gespenstisch beleuchteten, aber das alles war weniger Krieg als Kriegsspiel. Aus den besetzten Ländern floss ein Strom von Gütern und Lebensmitteln. Textilien konnten begrenzt auf Punktkarten bezogen werden. Natürlich entstand auch sogleich ein kleiner Markt, der schwarze Markt mit Waren zu Überpreisen.

      An den Häuserwänden erschien eine dunkle Gestalt, der Schatten eines Mannes in Schlapphut und Mantel, Feind hört mit, die volkstümliche Propaganda lief auf Hochtouren, jetzt wird eisern gespart - später punktfrei Staat gemacht; Anton kommt in seinen Bau, da entdeckt er Kohlenklau...

      Noch immer war der Krieg ein mehr heiteres als unerträgliches Ereignis, und die Verluste an Menschen waren gering. Wen es traf, der zählte zu einer Minderheit.

      Endlich gehörten auch wir zu den Auserwählten, die an Feiertagen in die Aula marschierten, Fahnen vor uns hertragend, mit kurzen, dumpfen Marschtritten; endlich umschlang das einigende Band militärischer Disziplin auch uns. Wir fühlten den Flügelschlag der Geschichte, die Berührung mit dem Fahnentuch verlieh uns übermenschliche Kräfte. Einer heiligen Sache dienten wir, einer Sache ohne Ausdruck, ohne Begriff.

      Hinter dem Redner hing eine Karte, sie zeigte Europa und Asien, eine riesige zusammenhängende Landmasse, von der wir schon eine Vorstellung besaßen. Wir unterschieden Völker, Staaten und Kontinente, wussten, was wo produziert wurde, kannten die ethnische Zusammensetzung, eingesprengte Reste germanischer Herrenvölker, die ihre bleibenden Spuren hinterlassen haben, von der Krim bis Indien, der Indoarier, der Lichtsucher, unterschieden vom Slawen oder Semiten, der durch dunkle, abscheuliche Triebe beherrscht wird. Meine Mutter Verena hatte es erlebt bei Max Hirsch; nun bestätigt durch Autoritäten, wahr die Beobachtung also, unbestreitbar wahr.

      Wetter hielt eine Ansprache. Seit einigen Tagen tobte ein neuer Kampf, der im Osten, dem uralten germanischen Lebensraum, einst den Slawen abgetrotzt; jetzt trat die germanische Rasse ein weiteres Mal zum Kampf um den deutschen Osten an, um das heilige Gut des Reiches, um das die Ordensheere ruhmvoll gekämpft unter Heinrich von Jungingen, ihrem Hochmeister. Schmählich, nach Slawensitte, war der Vertrag von bolschewistischen Untermenschen gebrochen worden. Der Führer war jedoch dem Schlag zuvorgekommen, und - Wetter ging zu sachlichen Darlegungen über - der Zeigestock des Lehrers fuhr über die Karte. Dort standen deutsche Panzer, deutsche Soldaten trieben die Feinde zu paaren.

      Die Bühne wurde verdunkelt, wir blieben mit dem Rücken zur Leinwand stehen, wir sahen also nichts von dem Film, der dort gezeigt wurde, aber wir kannten die Bilder ohnehin, die Reihen anstürmender Bolschewisten, die vor die deutschen Maschinengewehre gejagt wurden, angetrieben vom Kommissar, der keinen Pardon kannte. Zu dumpfer Musik glitt das Auge der Kamera über die getöteten Menschen, ein Anblick, uns längst vertraut, keiner von uns zuckte mit einer Wimper. Das Licht ging an, und Wetter schloss seine Rede mit Zuversicht. Der Endsieg stand nahe bevor, war der bolschewistische Feind erst niedergerungen, so mussten die Feinde im Westen in die Knie gehen. Und ganz besonders

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