Dame in Weiß. Helmut H. Schulz
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Es war der letzte Tag, den ich mit meinem Vater verbrachte, er trug schon Feldgrau.
»Papa, wo kommst du hin?«
Ich wusste, dass er seinen Einsatzraum nicht kannte, und wenn er ihn gekannt hätte, würde er ihn uns nicht gesagt haben.
»Nicht an die Front«, erklärte er, »nach Polen, ins Hinterland.«
Seine Dienststelle brauchte ihn, er war ein wichtiger Techniker für das Nachrichtenwesen.
»Vielleicht werde ich euch nachholen«, versprach er, »würdest du gern für immer in Polen leben?« Da er sah, dass ich ihm nicht folgen konnte, erläuterte er: »Es scheint so zu kommen, dass wir diesen Raum besiedeln werden, germanisieren.« Ich spürte Unsicherheit in seiner Stimme, erkannte, dass er sich noch sträubte, als Tatsache anzunehmen, was er mitteilte. »Germanisieren - wir würden selbstverständlich Vorrechte eingeräumt bekommen.« Er schien zu zweifeln und lächelte verlegen.
Es war ein freundlicher Tag, wir spazierten durch den Bürgerpark. Es waren nur wenige Leute außer uns unterwegs. Die mächtigen alten Bäume hatten etwas Beruhigendes, Dauerhaftes. Unter einer Brücke sprang das Wasser der Panke über grün bewachsene Steine. Ich dachte an Wendisch-Rietz, an den alten Stadel, dachte an das Haus in der Wilhelmshagener Straße, das verkauft werden sollte, und hatte Sehnsucht nach Frieden, weil wir alle wegen dieses Krieges getrennt wurden.
»Ich will nicht nach Polen.«
Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Es war nur so gefragt, hat keine Bedeutung. Ich denke auch nicht daran, nach Polen zu ziehen, ich kann ja nicht mal Polnisch.«
»Was wirst du dort machen?«
»Strippen ziehen«, sagte er verächtlich. »Oder andere welche ziehen lassen, einen Wählersaal einrichten, was weiß ich. Wer weiß denn schon was?«
Ich hörte Ärger, Zorn und Hilflosigkeit in seinen Worten mitschwingen und antwortete mit den Sätzen, die ich in der Schule gelernt hatte, vom nötigen Schicksalskampf der Deutschen, vom Volk ohne Raum.
»Wir gehen jetzt auseinander, mein Sohn. Wer weiß, ob und wann wir uns wiedersehen. Leben gibt es nur einmal, und dass dieses Leben nichts wert sein soll, gemessen an anderen Werten wie Volk und Raum und was sonst noch, ist ein komplizierter Gedankengang«, er zögerte, fand eine Formulierung und schloss, »ein zweckmäßiger Gedankengang.«
Ich spürte, dass er noch mehr sagen wollte, wartete, dass er weitersprechen würde. »In vier Jahren wirst du eingesegnet, und ich hoffe, dass wir dann alle wieder beisammen sind.«
»Du bist ja kaum noch zu Hause gewesen.«
Er wiegte den Kopf. »Du hast natürlich gespürt, dass deine Mutter und ich in manchen Fragen nicht einer Meinung sind. Das muss und wird sich jedoch jetzt ändern.«
In letzter Zeit ging er kaum aus, er verschanzte sich in seinem Zimmer hinter dem Schreibtisch, beschäftigte sich intensiver als früher mit seinen Büchern, Herbarien und Sternenkarten. Unvermutet hatte er begonnen, Russisch zu lernen, er gab viel Geld für Bücher aus. Englisch für den Handelskaufmann, französische Konversation. Manchmal, wenn er nicht zu Hause war, sah ich mich auf seinem Schreibtisch um, und mich bestürzte, wie fern mir der Mann war, der mit uns lebte, uns ernährte und versorgte, der mein Vater war. Damals sah ich, dass er allein war und es sein wollte.
»Wenn du weg bist, wo sollen wir Felix einschulen?«
Er zuckte die Schultern, »Das müsst ihr allein entscheiden.
Ich glaube, du bist der Einzige, dem noch an einem Familienleben liegt, mein Sohn.«
Er hatte mich beobachtet; hieß das, er hatte sich Gedanken über mich gemacht?
»Kann ich dein Mikroskop haben, wenn du weg bist, Papa?«
Er nickte.
»Du wirst auch nicht mehr lange in Berlin bleiben. Die Schulen sollen aus der Stadt heraus, wegen der Luftangriffe.«
Durch die zunehmenden Luftangriffe fielen beinahe in jeder, Woche mehrere Stunden aus.
»Man wird euch irgendwohin schicken«, sagte er, »du musst mit, es hilft nichts.«
»Und Mama und Felix?«
»Sie können auch nicht hierbleiben. Mein Vater wird sie aufnehmen, falls es nötig werden sollte.«
Der alte Stadel hatte wieder geheiratet, er ließ sich kaum noch bei uns blicken. Ob er in Wendisch-Rietz oder woanders lebte, wusste ich nicht.
»Dein Großvater ist ein vitaler Mann«, erklärte mein Vater lächelnd, »weiß der Himmel, woher er die Kraft nimmt. Aber helfen wird er euch schon.«
»Mir doch nicht.«
Keiner würde mehr leicht zu erreichen sein. Die Familie zerstreute sich.
»Wenn ich wenigstens mit Felix zusammenbleiben könnte.«
»Das wird nicht gehen.«
Wir verließen unseren Platz an der Brücke und gingen weiter in den Park hinein. Dort lag das Schloss. Es sah sehr schön aus; zum ersten Mal fiel es mir auf.
»Wohnt eigentlich noch einer drin?«
Mein Vater wusste es nicht.
»Der Park hat viel gelitten«, sagte meine Mutter Jahre später. »Aber er ist noch heute sehr, schön, dort ist die Brücke; aber ich glaube natürlich kein Wort von dem, was ihr hier angeblich gesprochen habt. Es war vielmehr so, dass dein Vater nicht den leisesten Zweifel hinsichtlich der Mission im Osten hegte. Wir wussten damals nicht, was wir heute wissen. Und es war tatsächlich die Rede davon, uns in Kielce, oder war es Radomsk, anzusiedeln. So rosig war unsere Lage nicht. Wahrscheinlich hätten wir uns in Polen bedeutend besser gestanden.«
Sie stieß ihren Regenschirm in den weichen Boden, deutete mit der Spitze auf eine Eiche und sagte: »Die gab es damals schon. Die Eichen werden wohl noch lange stehen. Ist unser Leben so nichtig, an diesen Bäumen gemessen?«
»Er war in Kielce, Mama, in Radomsk und in Krakow.«
»Richtig, du bist in Oberschlesien gewesen. Ich lebte in Kerstenbruch bei dem Bruder des alten Stadel, ach ja, ich hatte Veronika schon«, sie stieß mich an, »was hat deine Schwester eigentlich gesagt, ehe sie abreiste«?
»Was soll sie gesagt haben?«
»Ihr hattet doch wieder die alte Geschichte vor, ich weiß Bescheid.« Sie seufzte, wie es ihre Art war, wenn sie vorgab, ein Geständnis abzulegen. »Hannes, ich weiß wirklich nicht genau, ob sie von diesem jungen Fliegeroffizier ist oder von deinem Vater, zeitlich wäre beides möglich. Dein Vater war in dieser Hinsicht ein ruhiger Mann, mehr als ruhig, mehr als ich gewünscht hätte. Trotzdem haben wir immer ehelich gelebt, das sollst du wissen. Wir hatten damals nicht viel gemeinsam. Und seltsamerweise wollte ich dieses Kind, gerade wegen der Ungewissheit, ich wollte deine Schwester.« Sie legte Aufrichtigkeit in ihre Stimme. »Als sie zur Welt gekommen war und du ihr den anderen Namen gegeben hattest, als du mir zu verstehen gabst, dass du alles wusstest oder zu wissen meintest,