Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Jakob Ponte - Helmut H. Schulz

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meine Leiden als das Hölderlinsyndrom, das er als solches natürlich ablehnte; ich werde zu gegebener Zeit darauf zurückkommen, kann mich für jetzt auf den Ausschnitt aus der Zeitschrift Der Nationalsozialistische Arzt, den Mama aufbewahrt hat, berufen.

      Auf dem Platz vor meinem Fenster herrschte also die ausgelassenste Stimmung. Ein Junge im schönen braunen Hemd mit Koppel und Schulterriemen, mit Halstuch im Lederknoten, das Kriegsmesser an der Seite, hängte sich die Landsknechtstrommel um, kreuzte die Schlegel sieghaft über dem Kopf, der mit einem braunen Käppi, einem Schiffchen, bedeckt war, und ließ sie auf das Kalbfell niedersausen! Nach einem dumpfen Wirbel mischten sich die heller rasselnden Flachtrommeln in den Schlachtgesang der großen Trommel; zugleich hoben ältere Jungen die blinkenden Fanfaren. Hände auf die Hüften gestützt, brachte die männliche Jugend ihre Instrumente in Blasposition, indessen alle kleinen Geschäftsleute am Platz vor die Türen traten, die Hände zum Deutschen Gruß hoben oder anders Beifall bekundeten. Aus allen Fenstern wurden die Fahnen mit dem Hakenkreuz gesteckt, und auf dem Balkon des Rathauses erschienen die uniformierten Notabeln der Provinz. Einer hielt die Siegesrede, immer wieder vom Beifall unterbrochen. Zuletzt sangen wir alle die feierlich getragene Weise des Deutschlandliedes, unsere Nationalhymne und daran angehängt das Kampflied der Sturmabteilungen: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Das optische Bild des Volksfestes ist hier noch wiederzugeben; die großen und kleinen Verkaufsbuden, umlagert von Menschen, grünen, braunen, schwarzen Uniformen und Frauen allen Alters und Aussehens, die Kapellen auf den Podesten, Märsche und Schlager intonierend, Possen reißende Ansager auf kleinen Bühnen, volkstümlich kostümierte Jugend aus den umliegenden Dörfern, die Kultur-, Tanz- und Singkreise thüringisch-deutschen Brauchtums, schließlich der Auftritt Großvaters in der vordersten Reihe seines Männergesangvereins, intonierend: Das ist Lützows wilde verwegene Jagd ... Eijah.

      Ich durfte bis in den Abend aufbleiben, bis zum Fahnenappell. Unweit des zischenden Brunnens errichteten Stadtarbeiter einen Holzstoß. Ringsum standen wir Provinzler und sahen erwartungsvoll zu. Kräftige junge Leute in braunen Uniformen, Menschenblöcke bildend, betraten im Gleichschritt den Platz. Einer setzte in tiefer Stille den Holzstoß in Brand; und wirklich züngelte die Flamme hochauf und beleuchtete ihre martialischen Gesichter. Flamme empor, hieß es, steige mit loderndem Scheine und so weiter … Mit gewichtigem Ernst blickten alle in das prasselnde Feuer, ich an der Hand meines geistlichen Lehrers Hochwürden Fabian. Großmutter stand ebenfalls bei uns, Großvater und Mama fehlten. Seit dem Nachmittag hatte sie keiner von uns mehr gesehen. Ich dachte nicht weiter über ihre Abwesenheit nach, was auf dem Platz geschah, war interessanter. Durch das Geprassel des Feuers klang die Stimme des Führers der Jugend. Was er sagte, verstand ich nicht, aber die Stimmung am Abend der Siegesfeier ist mir im Gedächtnis geblieben. Wir hielten aus, bis der Holzstoß verglimmt war. Im Gleichschritt verließen die Kolonnen den Platz; zuletzt verliefen sich die Leute, und die städtischen Arbeiter beseitigten die Reste des Brandes. Bis zu unserem Haus waren es nur ein paar Schritte. Großmutter forderte ihren Neffen auf, ein Glas mit ihr zu trinken.

      »Mein alter Narr nutzt die Gelegenheit zu einer Saufpartie, natürlich«, sagte Großmutter verärgert. »Ich kann Ihnen versichern, die Ehe ist im Allgemeinen ein Kreuz, und zwar für beide Seiten; meine ist eine Strafe. Seien Sie froh, einem bösen Weibe entgangen zu sein.«

      »Wie man es nimmt, liebe Tante. Schlecht getroffen haben Sie es mit Ihrem Mann eigentlich nicht, aber es ist immer dasselbe mit euch Weibern, mit eurer ewigen Unruhe, euren andauernden Erwartungen und Sehnsüchten, Symbol und Abbild der Schlange.«

      Lachend sagte Großmutter: »Sie tun mir zu viel Ehre an, aber sonst mögen Sie recht haben. Wie war das mit dieser verflixten Viper im Paradies? Auf dem Bauche kriechen und Dreck fressen soll sie? Kinder unter Schmerzen gebären. Und da fällt mir ein, dass auch meine Tochter noch nicht im Bett liegt.« -

      »Vielleicht doch«, sagte er, »wenn auch nicht ihrem Eigenen; nach der Beichte werde ich es wissen.«

      »Was hat uns der Tag gebracht? Was denken Sie?« fragte Großmutter.

      »Die Frage ist, was er uns genommen hat«, erwiderte er, »wenn nicht den Rest unseres Verstandes.«

      Großmutter schlug vor: »Spielen Sie eine Partie Schach mit mir! Übrigens, wissen Sie, was unlängst drüben in Weimar passierte, ich meine, in dem Lager? Da fielen ihnen ein paar Leichen von einem Laster auf die Straße, die ins Krematorium gebracht werden sollten. Tolle Zustände, wie.«

      »Ja, ich hörte davon, und besser bringen Sie dieses Kerlchen mit den langen Ohren zu Bett, ehe wir uns in Einzelheiten verlieren.«

      Gern wäre ich noch aufgeblieben, aber Großmutter ließ sich nicht erweichen.

      Meine arme Mama musste in diesen Tagen die schwierige Aufgabe lösen, mich zu einem guten Christen und zugleich zum nationalsozialistischen Staatsbürger zu erziehen. Ich sollte gebildet sein, eine allseitig gebildete Persönlichkeit werden; in einer arbeitsteiligen Welt ein holder Traum, von der ursprünglichen gewollten Ungleichheit der Menschen einmal abgesehen. Als Mama an einem Mittwoch ihren Entschluss im Familienkreis verkündete, mich in die Kinderstunde zu senden, stellte Meister Fabian seine Kaffeetasse auf den Tisch und blickte sie prüfend an, eine Erklärung fordernd. Auch Großmutter verbarg ihr Erstaunen nicht. »Und warum soll Jakob in den Kindernachmittag geschickt werden?«, fragte sie.

      »Erstens haben wir als Gewerbetreibenden allen Grund, nicht aufzufallen, und zweitens ist es nur gut, wenn Jakob mit Kindern seines Alters spielt.« Dieser Erklärung setzten sie keinen Widerstand entgegen und Mama brachte mich also eines Tages in einen Kindergarten am Rande unserer Stadt und übergab mich einer Tante. Diese Tante zu schildern, will ich versuchen, obschon das Ereignis lange zurückliegt. Ich konnte hier zum ersten Mal meine Fähigkeit zur Parodie freien Lauf lassen. Anfangs stotterte ich sie an, weil ich ihren Namen nicht behalten konnte, nannte sie einmal sogar Herr. Mama hatte gesagt, hier sei ihr Kleiner, er spiele Klavier, singe wie ein Engel und werde später das Geigenspiel erlernen oder nach Südamerika auswandern, um das Deutschtum zu verbreiten. Zwar seien wir religiös, was uns aber nicht daran hindere, dem Führer unsere Kinder zu schenken. Anscheinend gefiel der Tante diese Rede, denn sie nickte ungefähr so wie eines jener Männchen, die ein Gelenk im Genick haben und bei jeder Erschütterung mit dem Kopf wackeln; solche Nickfiguren standen damals in vielen Schaufenstern. Zufälligerweise fragte sie nicht nach meinem Ariernachweis; vielleicht aber nahmen sie es damit nicht so streng wie üblich. In der kurzen Zeit meines Wirkens in einer nationalsozialistischen Kinderstunde habe ich nie Gelegenheit gefunden, meine Talente zu beweisen, weil wir anderweitig beschäftigt waren. Das Musizieren der Jugend war damals übrigens noch harmlos, gemessen an den heutigen Tonparametern, dem Hämmern von Elektrogeräten und Überschallanlagen, durch die jede läppische Tonfolge zur Kampfansage an uns geworden ist … »Ich denke, es wird gut sein, dass er zu Ihnen kommt«, hatte Mama meine Übergabe an eine staatliche Erziehungseinrichtung beendet. Vielleicht dachte Mama, sie hätte das Ihrige getan, indem sie mich teilte, in eine dem christlichen Gott reservierte, und in die andere, weltliche Hälfte, die dem Führer gehörte.

      Dem Zeitgenossen brauche ich das Verfahren, kindliche Seelen zu manipulieren, nicht zu erklären; er ist genügsam bekannt mit der Prozedur. Unter der Aufsicht dieser Tante sangen und spielten und tanzten wir kleinen Blödiane wie junge Hunde um sie herum, lernten Gedichte und sagten sie auf, und taten mancherlei Unsinniges. Der Raum, in welchem alles geschah, war klein; an der Stirnwand hing ein Führerbild, davor stand ein Tisch für die Tante, und an diesem Tisch in T-Form ein weiterer Tisch für uns, vielleicht zwölf oder fünfzehn kleinen Mädchen und Jungen. Ich entwickelte eine starke Neigung zu meinen gleichaltrigen Gefährten, mein kindliches Gemüt wurde empfänglich für den Anmut der kleinen Mädchen, um deren reine Stirnen zu Kronen geflochtene blonde und braune Zöpfe gewunden waren. Sie erschienen mir allesamt niedlich mit ihren rosigen Lippen und dunklen oder hellen Kinderaugen. Es gab natürlich auch weniger auffallende Gören mit glattem Haar und farblosen Augen, aber diese interessierten mich weniger. Die Jungen gefielen mir auch, obschon

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