Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Jakob Ponte - Helmut H. Schulz

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umstanden, hörten mich wiederholt und sorgenvoll den ihnen unbekannten Namen hervorstoßen. In Mamas Tagebuch steht jedenfalls eine Notiz, die deutlich macht, wie verstört alle gewesen sind und sich fragten, wie es nach der Botschaft Liskows weitergehen würde, im Gang der Geschichte. Nur meine Großmutter Clara Katharina soll gesagt haben: »Dieser Lümmel hält uns alle mal wieder zum Narren; was bei solch einer verrückten Mutter kein Wunder. In der Tat wird es Krieg mit den Russen geben, aber wenn es jedermann weiß, warum ist es dann ein Geheimnis?«

      »Womit Sie es getroffen haben«, trat ihr mein Meister Fabian beipflichtend an die Seite. Der Arzt schaltete sich ein. »Jedenfalls schließt die Wissenschaft telepathische Fähigkeiten nicht grundsätzlich aus, verehrte Frau Ponte. Wie sie zustande kommen, ist eine andere Frage. Es ist nicht seine Schuld, wenn wir Jakob nicht begreifen«.

      »Na, sehen Sie«, sagte der Geistliche zufrieden und legte mir die Tatze auf die Stirn. »Schritt für Schritt kommen sich Geistlichkeit und Atheist näher«

      »Aber ich finde es sehr anstrengend, einen Hellseher im Hause zu haben«, soll Großmutter geendet haben. Mamas Tagbuch ist gelegentlich recht genau, wie der gutgläubige Leser sieht, womit mir die Sicht auf jene Zeiten erleichtert wird. Anderen Tags aber war mein Traum Wirklichkeit. Deutschland befand sich im Krieg mit Russland! Mit der Sowjetunion. Die mündliche Überlieferung der Ereignisse um den Soldaten Liskow wurde allerdings erst Jahre später von den politischen Historikern nutzbringend aufgegriffen. Zu diesem Liskow gesellten sich unzählige Mahner und Warner, dass ich mir die Freiheit herausnehmen darf, mich unter sie wegweisend weiter vorn einzureihen. Ich musste hier darüber wahrheitsgetreu berichten als einem weiteren Beispiel meiner Kunst, auch wenn sich später herausstellte, dass es überall Liskows gab, die Bescheid gewusst haben, dass es geradezu von ihnen wimmelt. Nach dieser wichtigen Einlassung darf ich in der Schilderung meines Lebens fortfahren. Hier haben Sie ein Beispiel wie man Geschichte schreibt, hätte hierzu Voltaire bemerkt.

      Ich hatte endlich und nach überraschend kurzer Zeit lesen gelernt hatte. Aber ich dachte gar nicht daran, bei den Kinderbüchern, die sie mir kauften, stehen zu bleiben, obschon ich einige las. Einen Mann namens Sigismund Rüstig lernte ich kennen und blätterte seine Geschichte flüchtig durch, fand alles zuerst recht spannend, bemerkte aber noch rechtzeitig die versteckten erzieherischen Zwecke hinter diesem ehrlichen, arbeitsamen und wahrheitsliebenden, leider etwas doofen Menschen.

      Den Höhlenkindern im heimlichen Grund folgte natürlich Robinson Crusoe und Gullivers Reisen, das heißt die für das kindische Eiapopeia zurechtgestutzten Fassungen. Es handelte sich, wie ich ahnte bei dieser Art Bücher um ein listig hergestelltes moralisches Gemisch, um die kindliche Lust am Abenteuer auszunutzen. Der Wunsch, die Welt durch außerordentliche Leistungen zu überraschen, wurde hier wie auch in anderen Kinderbüchern, die mir zugänglich waren, mit dem Zuckerwerk des erwünschten Verhaltens zu einem süßen Brei verrührt. Instinkt und Beobachtung sagten mir, dass die wirkliche Welt um manches ärgerlicher, ungerechter und grausamer war als dieses von weggelaufenen Lehrern geschriebene Zeug. Ich brauchte nur in ein Kino zu gehen, um die Wirklichkeit zu erkennen; in der Wochenschau bekamen kleine Jungen nicht bloß einen Husten, den Mama und Papa mit ein paar Tropfen Honigsirup heilen; sie bekamen nicht den Klaps auf den Hintern, sondern den Fangschuss, ihre Leichen wurden in Reihen hingelegt und wurden gefilmt, als sei nichts von Bedeutung geschehen. Still lagen sie neben ihren getöteten Vätern, und ihre Mütter trugen Rot-Kreuz-Binden und gingen gleichgültig zwischen den Toten hin und her.

      Mein Wahlvater Fabian besaß eine schöne Bibliothek. Ich mochte acht oder neun Jahre alt gewesen sein - der kluge Leser wird diesen Zeitsprung um so lieber in Kauf nehmen, wenn er sich vergegenwärtigt, dass im Leben kleiner Jungen nicht viel Aufschreibenswertes geschieht - als ich diesen Reichtum an Büchern wahrnahm. Durch den Flur seiner Wohnung kam der Besucher in einen großen Raum, seinem Studierzimmer mit fast schwarzen Eichenmöbeln, mit Lesepult, dem Schreibtisch, einem meterhohen Kruzifix; im Nebenzimmer, einer schlichten Kammer, stand ein breites Bett und ein kleiner Tisch mit Leselampe. Außer diesen beiden Zimmern, die übrigen Räume lernte ich erst später kennen, enthielt die Wohnung des Geistlichen noch eine große Küche mit Wandbrettern und Borden voller Kasserollen und Tiegel und einem gut versorgten Weinkeller. Entgegen den Gepflogenheiten zölibatärer Geistlicher bestellte er sich weder eine Köchin noch eine Magd zur Bedienung am Tisch und im Bett. Hin und wieder kam eine alte Frau, die ihm alles in Ordnung brachte. Ich glaube, dass er eigentlich nur für seine Bücher lebte. In meiner freien Zeit begab ich mich nun öfter entweder allein oder mit Jan und Karl zu ihm, der uns an seinen Bücherschätzen teilhaben ließ und sicherheitshalber jedes ausgeliehene Buch in ein Heft eintrug.

      In jener Zeit, als ich zu lesen und also zu begreifen anfing, stand ich natürlich vor einem Dschungel ohne Weg und Steg. Lesen, anschauen durften wir bei ihm, soviel wir wollten und solange wir ihn nicht störten, aber nur ungern ließ er uns ein Buch mit nach Hause nehmen. Mit Recht, denn Bücherfreunde sind im Allgemeinen Bücherdiebe. Dieser Zug ängstlichen Festhaltens am Bücherbesitz und sein manischer Trieb, wertvolle Bücher zu erwerben, erinnert mich an jenen Kriminalfall im Sächsischen, wo ein Pfarrer als mehrfacher Frauenmörder gerichtlich belangt werden musste, weil ihn die Leidenschaft des Sammelns von Druckwerken dazu gebracht hatte, vermögende Frauen aufzuspüren, möglichst reiche Witwen, sie zu heiraten, um sie sogleich umzubringen, und mit ihrem Geld Bücher zu kaufen. Hochwürdens Bibliothek war erstklassig, wie amtlich festgestellt wurde; sie enthielt alle Werke des römischen Index, und natürlich etliches an Bibeldrucke. Aber seine Richter hatten Verständnis und Mitleid mit diesem armen Tropf und ließen ihn am Leben.

      Mein Meister las als theologisch gebildeter Mann beinahe alle europäischen Sprachen. Unglücklicherweise war er kein Liebhaber des Neuen Testaments, vielmehr studierte er vorzugsweise die blutigen alten Geschichten, in denen es stets um Macht und um Liebe geht, obschon alle diese schlüpfrigen Histörchen in das Mäntelchen des Glaubens gehüllt sind, das heißt, unter der Oberhoheit Jahves verübt wurden. Nachdem wir erfahren hatten, wie und warum Judith den Holofernes umgebracht und mit welchen Mitteln David den Ehemann aus dem Wege geräumt hatte, um sich der Bathseba zu bemächtigen, durften wir nach Belieben in den Bücherschränken und in den Regalen nach Lesestoff unserer Wahl forschen, in alten Wälzern mit den Holzschnitten der Apokalypse Dürers blättern, den Totentänzen und Weltuntergängen. Von Cranach bis Bosch kannten wir bald alle diese Gestalter von erhabenen Katastrophen. Um einige Bücher zu nennen, deren Titel ich damals hörte, später las und immer wieder las, die Ilias des alten Fabulierer Homer natürlich, zunächst nur in den holprig-poltrigen deutschen Übersetzungen, die Abenteuer des Don Quijote, Platos Staatsideen, die Utopia des Thomas Morus, alles fiel mir zeitig in die Hände, und weckte oder nährte den Skeptiker in mir. Genug, es waren frühe Freuden und geistige Abenteuer, die meinen Weg mitbestimmt haben. Einmal aber kam die Frage zwischen uns Jungen und ihm, dem Erfahrenen, zur Erörterung, was ihn an diesen Platz in Müllhaeusen gebracht hatte, und was ihn hier festhielt, ein Umstand, der selbst unseren Eltern rätselhaft erschien. Ruhig saß er in seinem großen Chorstuhl, die Füße auf ein Kissen gestellt und den Ellenbogen aufgestützt, die Hand an die Wange gelegt. Erinnere ich mich richtig, so gab er vor, mit seinem Los zufrieden zu sein. Bei anderer Gelegenheit kamen wir, er und ich, uns näher und er erklärte sich für mich verständlicher. Ich hockte ihm zu Füßen, ein schlitzäugiger, spilleriger Teufel, unruhig und schlau; wir waren ein hübsches Gespann.

      In diesen Tagen reiste der Führer Adolf Hitler durch unsere Stadt, aus welchem Grunde, habe ich vergessen, finde auch nichts darüber verzeichnet. Die Historiker behaupten, der Führer habe während des Krieges öffentliche Auftritte gescheut und sei nur selten gereist. Einmal zumindest war er es doch und besuchte unsere Provinz, und unser Haus am Markt, das schöne alte Knochenhauerinnungshaus, wurde für diese Stunde an diejenigen vermietet, die vom Schicksal nicht so begünstigt waren wie wir. Mein Zimmer im Giebel blieb von den Mietgästen verschont, aber ich durfte meine Freunde zum Schauen einladen. Bereits in der Nacht vor dem großen Ereignis begann sich der Platz unter uns mit Menschen zu füllen. Die Leute brachten Stühle mit und verzehrten während des Wartens die mitgebrachten Esswaren; die sogenannte Verdunkelung ward aufgehoben, Autos fuhren

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