Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
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»Als wenn der Papst kommt«, sagte Jan, der wie sein Vater nur kirchenfromm und das heißt, gleichgültig gegenüber dem Christentum war. »Päpste gehen nicht auf Reisen, mein Sohn«, erklärte Hochwürden Fabian, »sie lassen kommen, sie gewähren Audienz«!
Damals fing ich an, Unterschiede zu sehen, die aus den Veränderungen in der Welt herrührten, was meinen Enthusiasmus für das Führertum im Allgemeinen nicht schmälerte. Zuerst hörten wir in der Ferne ein Brausen, es kam aus einer Vielzahl menschlicher Kehlen. Auf dem Platz rasselten Trommeln, Fanfaren fielen schmetternd ein, und dann strudelte eine Gruppe Menschen durch den frei gehaltenen Gang auf den Platz. Der Führer trug eine dunkle Hose, den hellen braunen Waffenrock und Mütze, mit schnellen Schritten erklomm er die Treppe unseres Rathauses, gefolgt von einigen seiner Getreuen in schwarzen, braunen und grüngrauen Uniformen. Gesichter ließen sich nicht erkennen. Mir stieg ein Kloß in die Kehle; ob mein Vater, wie ich Hochwürden in diesen Aufzeichnungen fortan nennen will, ganz wie ich in der Wirklichkeit jener Jahre, dem Augenblick ebenso erlag wie ich? Der Mittelbalkon des Rathauses war geöffnet worden, und der Führer trat grüßend heraus; dort stand ein Mensch, aus den Tiefen aufgestiegen bis zum Beherrscher Europas, und wir alle glaubten uns an seinen Stern gebunden, was auch kommen werde, und schwelgten in Seligkeiten, nicht nur wir kleinen Leute, auch die Großen der Welt, und deshalb habe ich gute Gründe anzunehmen, dass auch mein Vater in dieser Stunde eher das Licht sah, nicht aber die Schatten, die dieser Herrscher warf, wie jeder ungewöhnliche Mensch.
Unten auf dem Platz zuckte und schrie die Menge, reckte die Arme, drängte dicht an das Podest heran, indessen der Führer, den Arm erhoben, dastand, ohne Bewegung, die Hand ans Koppel gelegt. Er hielt keine Rede, blieb nur kurze Zeit auf dem Balkon, ehe er ins Innere des Rathauses verschwand. Die Menge unten verlief sich jedoch nicht. Als der Führer nach Stunden wieder herauskam, grüßte, Hände schüttelte und lächelte, war das Gedränge eher noch größer geworden. Der Führer nahm den kürzesten Weg durch die Menge; er verließ uns. Viele weinten, sie konnten nach diesem Erlebnis nicht einfach auseinandergehen; sie schlenderten herum, redeten, das Volksfest dauerte bis in die Nacht. Damals beschloss ich, ein junger Nationalsozialist und Gefolgsmann des Führers zu werden, und in das deutsche Jungvolk einzutreten, obschon ich angeblich zu klein und zu jung war, um aufgenommen zu werden. Mama, auch meine Großeltern hielten mich für ungeeignet, einer solchen Körperschaft beizutreten.
Für die Nachgeborenen, die es nicht wissen können; beim Jungvolk handelte es sich um eine Unterorganisation der Hitlerjugend, in letzterer durfte der junge Deutsche erst nach vollendetem vierzehntem Lebensjahr eintreten. Der heiße Wunsch aller Kinder aber richtete sich auf die Erlaubnis der Eltern zum Eintritt ins deutsche Jungvolk, das uns ab zehntem Jahr offenstand. Die Großen aber teilten das Begehren ihres Nachwuchses, in eine paramilitärische Organisation einzutreten, nicht immer. Mama war wie gesagt der Ansicht, ich sei zu klein und zu schwach, um den Strapazen einer barbarischen Erziehung gewachsen zu sein, die mit den Pflichten eines Jungvölkischen, verbunden gewesen sind. Großmutter sah alles von der praktischen Seite her an, sie fürchtete die Aufwendungen an Geld für meine Ausrüstung und darüber hinaus, dass mein Lebensweg zum Geistlichen unterbrochen werden könnte. Denn irgendwie hatte sie ihre Pläne mit mir geändert und mich vom Uhrmacherhandwerk entbunden und zum Theologen bestimmt.
Am Tag nach dem Hitlerbesuch hatten wir Knaben einander geschworen, den Widerstand unserer Eltern zu brechen. Herr Caskorbi und Fräulein Krebs waren pflichtgemäß der Auffassung, wir alle gehörten in den Rock dieser Jugend. Die Lehrer mochten andere Gründe haben als wir, aber alles hing eben von der Zustimmung der Eltern ab. So kam die Stunde heran, wo ich im Erkerzimmer, unserem Thingplatz, die Familie mit meinem unabänderlichen Entschluss bekannt machte, Nationalsozialist und Gefolgsmann des Führers zu werden. Übrigens hatte sich Großvater des Urteils enthalten; er war Parteimitglied und konnte nicht gut gegen meine Pläne stimmen.
Besonnen fragte Großmutter: »Hat Herr Links seinen Jan auch schon angemeldet?« Ich mogelte ein halbes Ja in meine Antwort, denn zur gleichen Stunde mussten die Verhandlungen im Hause Links begonnen haben, mit ebenso ungewissem Ausgang. »Und was sagt Herr Oberstudienrat?«
»Ich glaube«, schaltete sich mein Wahlvater Fabian ein, der am Familienrat teilnahm, »da hat es keine Not. Lassen Sie es gehen, wie es will! Wir sind eingekreist, liebe Großtante, sind belagert, und übrigens hat es wenig Sinn, die Zustimmung zu verweigern, weil alle diese Knaben eben nach frühem Waffenruhm streben. Das wird sich legen«. Nach einer Weile fragte ihn Großmutter: »Sind Sie eigentlich auch schon Nazi? Offenbar sind alle verrückt geworden. Was sich da gestern abgespielt hat, das ging auch schon über meinen Verstand. Wozu muss ein solch kleiner Bengel in Uniform herumlaufen? Jakob wird Geistlicher, kein Krieger«. Anderntags suchte ich mit Großvater ein Effektengeschäft auf, um die Uniform zu kaufen; mit Geld waren wir gut versehen. Zuerst betraten wir das Café, denn auch Jan war erfolgreich gewesen. Herr Links erschien, die beiden Geschäftsleute und Liedertafelfreunde begrüßten sich und tranken sich Mut an, um für den Gang in das Effektengeschäft gestärkt zu sein. Herr Links seufzte. »Wie hat denn Herr Oberstudienrat entschieden?«
»Dafür«, sprach ich kühn, denn mir kam eine Ahnung, dass sie alle von den gleichen Befürchtungen geplagt wurden und von ähnlichen Hoffnungen lebten. Sie wollten sich heraushalten aus dem, was kam, aber was kam eigentlich? Ein Hitlerbild an der Wand ihres Zimmers bedeutete nichts, wir hatten auch eins, nein, sogar mehrere. Großvater, schon beschwipst, wurde ermächtigt, für uns beide, für Jan und für mich, die Uniform zu kaufen. Auf unserem Weg trafen wir das Paar Kniri, Vater und Sohn, Vorteil der Provinz, da es nur einen Laden für Uniformen und Effekten in der Stadt gab. Wären Artus, Vater und Sohn, mit uns gezogen, so hätten wir auch wirklich eine stattliche Zahl junger Krieger abgegeben ...
»Kaum«, erklärte der alte Herr Kniri darauf angesprochen Großvater, »der alte Pflaumenbaum war zu meiner Zeit Pedell am Gymnasium. Das wissen Sie wohl nicht, Herr Ponte. Beim Kapp-Putsch hat er sich als Ruhestörer entlarvt, soll auch seinerzeit bei den Leuna-Aufständen dabei gewesen sein und viel Ärger gemacht haben. Freilich dürfte er nach seinem Aufenthalt im Konzentrationslager drüben in Weimar etwas ruhiger geworden sein«.
»So«, sagte Großvater erschrocken, »so einer ist das? Und unsere Kinder gehen mit seinem Bengel in die gleiche Schule? Sollten wir das nicht unterbinden?«
»Aber woher«, sagte Herr Kniri, »verbieten wir den Knaben den Umgang untereinander, so werden sie ihn erst recht suchen. Glauben Sie einem alten Lehrer.«
Mittlerweile hatten wir den Effektenladen betreten. Dort gab es die Uniform, schwarze Cordhose, das braune Hemd mit Achselklappen und Brusttaschen, das lederne Koppel mit einem Schloss und Schulterriemen, das schwarze Halstuch und den geflochtenen Lederknoten, den sogenannten Türkenbund, Käppi und Schuhe. Nur leider, das Kriegsmesser war uns versagt, die schöne dolchartige Waffe, größer und breiter als alle Messer in unserer Küchenlade. Zwar wurde es gekauft, kam aber unter Verschluss und in elterliche Verwahrung, bis wir soweit sein würden, schimmernde Wehr zu tragen. Dann ward es vollbracht; endlich standen wir in Reih und Glied, legten die Hände an die Seitennaht der Hose und durften nach den Befehlen größerer Jungen das Einmaleins militärischen Gehorsams erlernen. »Richt euch! Rührt euch! Augen rechts, beziehungsweise die Augen links; und im Gleichschritt marsch!« oder: »Ohne Tritt, marsch!« Da hieß es dann: »Zur Meldung an den Fähnleinführer, die Augen links oder eben rechts!«
Wir drehten die Köpfe wie an der Schnur