Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Jakob Ponte - Helmut H. Schulz

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ihr Tag so lang wie unsere Woche, sie trödeln, wo wir eilen. Ein Jahr ist ihnen wie eine Ewigkeit, uns vergeht es im Fluge. Aber sie lernen an einem Tag auch mehr als wir in vier Wochen. Als ich an der Hand Mamas auf dem Schulhof stand und der Einweisung in den Schultag harrte, waren mir ein paar Jungen aufgefallen, deren gediegen, bürgerlich Äußeres, so will ich es nennen, auf eine innere Verwandtschaft zu mir schließen ließ. Des Umganges mit Erwachsenen war ich etwas überdrüssig; ihre Schrullen, ihre Heuchelei, ihre tiefe Verlogenheit und Rechthaberei kannte ich schon, sie boten mir nichts Neues. Mich dürstete es nach der Reinheit von Kindern. Auf Geschwister durfte ich nach Lage der Dinge nicht hoffen, obschon meine arme Mama sich anlässlich der Siegesfeier wegen ihres nächtlichen Ausbleibens strenger Kritik durch Großmutter ausgesetzt sah.

      Die Namen meiner künftigen Freunde seien hier feierlich mitgeteilt: Jan Links, Artus Hengst, beziehungsweise Pflaumenbaum, zuletzt Prunicaeus und Karl Kniri. Später kam noch der Freiherr Ehrenfried von Schramm hinzu, den ich an der passenden Stelle einführen werde. Bis in diese Tage hinein haben unsere Beziehungen gehalten. Deshalb gehören ihre Namen auf die Ehrentafel der großen Männerfreundschaften, etwas durchaus Seltenes, wie jeder zugeben wird.

      Jan war der Sohn des Kaffeehausbesitzers Links, welcher sein Geschäft am Rande des Marktes betrieb, und zwar mit erheblich ökonomischem Erfolg und kulturellem Nutzen. Jan schienen am Tag unserer Einschulung ähnliche Gefühle wie mich zu bewegen, die Gleichheit unserer Schicksale band uns von vornherein aneinander. Wie ich zählte auch er zu den Schwachen, das heißt also zu den begabteren Schülern, mit denen keine Schule je etwas anzufangen gewusst hat, eben weil sie alle Kinder gleichmachen will und muss. Von Gestalt war er mir ähnlich, die Handgelenke schmal und die Finger lang und grazil. Sein bräunlicher Teint und das dunkle Haar ließen brüderliche Zuneigung zwischen uns entstehen, denn ich besaß ähnliches Haar und ähnliche Augen, die allerdings, anders als seine, asiatisch geschlitzt waren. Wir übten uns im Kampf und galten bald als Raufbolde. Selbstredend kam ich ihm zu Hilfe, wenn er im Gefecht mit anderen zu unterliegen drohte, wie umgekehrt er mir in kritischen Lagen beistand. Nach den anfänglichen Erfahrungen der morgendlichen einsamen Schulgänge warteten wir aufeinander und berieten unterwegs die Strategie, unsere Lehrer zu hintergehen, oder uns kleine Vorteile über sie zu verschaffen. Es verband uns noch etwas anderes, die edle Musica. Jan spielte schon meisterhaft auf dem Klavier in seinem Zimmer oder auf dem Stutzflügel im elterlichen Café. Manch ein Musikliebhaber hielt sich seinetwegen länger dort bei einer Tasse Kaffee auf. Übrigens konnte Jan für älter gelten, er war ein frühreifer Mensch und stritt sich nie mit den Lehrern, er trug während der vier Jahre Volksschule eine schöne Überlegenheit zur Schau; seine unkindliche Arroganz empörte natürlich die Aufseher, und er errang demzufolge immer schlechtere Noten in den allgemeinen Fächern. Wenn ich mich eben als Raufbold ausgab, so bedarf es dazu einer Anmerkung. Im Grunde genommen schreckt meine Natur vor der körperlichen Gewalt zurück. Aber ich war einer jener Taugenichtse, die aus einer Meute heraus Überfälle provozieren, was meine Feinde als heimtückisch bezeichneten, nicht bedenkend, wie hinterlistig sie selbst waren. Aufs Ganze betrachtet und vom Standpunkt der Erwachsenen aus, handelte es sich um harmlose Rangeleien unter Jungen, um jenes Balgen, das nötig ist, um Kräfte zu messen und eine Rangordnung zu entwickeln. Allein es zeigten sich doch unterschiedliche Anlagen, und ich bin überzeugt, dass sich in unserer Schülerklasse auch Kinder befanden, die viel gelassener, also viel blöder und eintöniger dahinlebten. Durch Jan Links wurde ich ins Kaffeehaus eingeführt. So wie mich das Innere einer Kirche zu erheben und zu berauschen vermochte, so rasch geriet ich in den Bann dieses weltlichen Etablissements. Auf den runden Marmortischen befanden sich Ascher und jeweils ein kleiner silberner Ständer mit der Nummer des Tischchens. Die Stühle waren dunkel gebeizt und die Wände mit einer schwarzen Täfelung versehen. Neben diesem Braun und Schwarz herrschte Grün vor, das Glas der Türen war grün, die Samtbezüge der Sofas in den Seitennischen ebenfalls, und überall fanden sich die so eigenartig geschnörkelten Schriftzeichen der Jugendstilepoche. An einer Seite, fast die ganze Wand einnehmend, stand das Büfett, im Ton wie das andere edle Mobiliar gehalten, aber durch blitzende Spiegel, Gläser und Kristall herausgehoben. Die Kasse war durch Herrn oder Frau Links ständig überwacht, während ein Schwarm junger Mädchen in kurzen schwarzen Seidenröckchen, so kurz wie es der damalige Sittlichkeitsbegriff der Provinz erlaubte, und weißen Servierschürzen zu passenden Häubchen die Gäste mit Kaffee und Kuchen, Likören und Wein versorgte und durch gefälliges Lächeln zum Bleiben ermunterten. An den Nachmittagen bis in die Abendstunden hinein saß ein Pianist vor dem Stutzflügel und bot, was man Kaffeehausmusik nennt; in das Tröpfeln der Töne mischte sich leises Klingeln der Löffel an Tassen oder Tellerrändern. Manchmal stieg ein Lachen von einem der Tische auf, und jedenfalls schwebte über alledem der Zauber einer trägen, vom Nichtstun gekennzeichneten lasziven Welt, einer Welt zwischen den Zeiten. Denn noch war beinahe alles wie es zuvor gewesen, zumal in einem Provinzcafé, dessen Chef viele Beziehungen zu den Lieferanten aufrechterhielt.

      Als Freund des Hauses genoss ich hohes Ansehen bei den jungen Dienerinnen, die mir Schokolade servierten, mich anlächelten oder mir rasch über den Kopf strichen, wenn Herr Links herübersah. Sie rochen nach Kaffee, nach Parfüm, ihre Lippen waren schön rot und ihre Frisuren bunt gefärbt und zu Wellen und Löckchen aufgesteckt, obschon eine solche Aufmachung staatlicherseits ungern gesehen wurde. Das Haus Links hielt auf sich; es war auch das erste am Platze und erfreute sich großen Zuspruches durch die städtischen Amtsträger. Alle diese halb uniformierten Mädchen wurden mit Vornamen gerufen; sie hießen Elli oder Wally, und mein Ohr entnahm ihren Namen den Klang der Liebesfanfaren; etwas herablassend Respektloses schwang im Ruf des Kunden nach einem der Mädchen mit, das nicht seine Tochter und doch keine Prostituierte war. Ich will damit nicht sagen, dass es im Café am Markt unordentlich zugegangen wäre, im Gegenteil, die Firma Links war viel zu sauertöpfisch, um ein Bordell zu dulden. Nein, es war Provinz, die halbe Wahrheit, die ganze Heuchelei, der hohle Schein, der sich spreizte, wenn auch nur Kaffee, Sachertorte und die Tröpfeltöne eines Klaviers geboten wurden, abgesehen von dem, was hinter den Kulissen geschah.

      Ich saß also gern im Café Links und sog den Geruch der Sünde ein, ohne recht zu wissen, worin sie bestand. Im Übrigen erschienen mir alle diese Mädchen wirklich schön. Mein Meister Fabian, der selbst gelegentlich einen Kaffee mit Kirsch im Etablissement Links zu sich nahm, mochte die eine und andere der Mädchen seelsorgerisch betreuen und ihre Geheimnisse kennen. »Diese hier sind ohne Zweifel den Engeln Gottes verwandt«, sprach ich wohl spöttisch, auf die Dienerinnen des Hauses weisend, deren kleine Hintern unter den kurzen Röcken wackelten, was einen entzückenden Anblick bot. Mein Meister brach in ein helles Gelächter aus. Er lachte Tränen und konnte sich kaum beruhigen, bis die Mädchen ängstlich herüberblickten, ahnend, dass eine von ihnen der Anlass für den priesterlichen Heiterkeitsausbruch gegeben hatte. »Ich habe anscheinend einen Muselmann aus dir gemacht«, sagte er, sich die Lachtränen abwischend. Ich forschte nicht weiter nach, was seine Bemerkung bedeute, war aber verstimmt über seine Ignoranz.

      Von dieser Kinderfreundschaft zwischen mir und Jan profitierte Großvater übrigens schamlos. Häufig gab er vor, mich aus dem Café abholen zu müssen und besuchte in Wahrheit Herrn Links, seinen Freund, um sich einen anzutrinken. Wenngleich auch die Stadt nicht gerade ein Sündenbabel gewesen ist, so war sie doch lebensfroh und sinnlichen Genüssen gegenüber offen. Und so sah ich denn staunend Großvater und den Erzeuger meines Freundes Jan gelegentlich zum Trinkgelage schreiten. Manchmal nahm mich Großvater allerdings beiseite und trichterte mir eine seiner faulen Ausreden ein. Die alte Frau vertrug eine ganze Menge Schwindel, freilich nur, um ihm die Kandare um so fester anzuziehen. Anders Mama. Sie lechzte selbst zu sehr nach dem freien Leben, als dass sie Großvater und mir die Kumpanei verzeihen konnte. Sie stimmte ihre Leier immer öfter auf den moralisierenden Ton. »So fängt es an! Ich erkenne den schlechten Charakter seines Vaters wieder! Ich will nicht sagen, dass Jakob ein Alkoholiker ist, aber jung geübt, alt getan«.

      »Nun«, sagte Großmutter, »er trinkt vorläufig meistens Milch oder Schokolade. Aber schon recht; er ist eben ein Mann oder er wird es einmal werden, und dir hängen wohl nur die Trauben zu hoch«. Worauf Mama leise aufschrie und nach Paris oder Eisenach zu ziehen drohte; ich wiederhole mich, allein nur, um der Wahrheit zu dienen. Um Mama gab es mehr als ein Geheimnis; sie hätte dienstverpflichtet

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