Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
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Den Wechselfällen des Lebens sind nicht nur Menschen, sondern auch Dinge unterworfen. Meiner Vaterstadt, einst frei, stolz und bedeutend, widerfuhr das Missgeschick, im Jahre 1802 unter die Herrschaft Preußens zu geraten. Sie sank noch tiefer, als sie 1807 einem Königreich Westfalen eingegliedert wurde, aber es änderten sich die Zeiten, und Preußen nahm Müllhaeusen wieder unter die Fittiche seiner strengen Verwaltung. Es war nicht die letzte Wende unserer Stadt; einmal flatterte sogar das Sternenbanner über Müllhaeusens Kirchtürme, wurde dann allerdings von den Symbolen Hammer und Sichel abgelöst und so fort. Ich werde hierzu Rede und Antwort stehen. Jede Epoche sucht sich in Bauwerken zu verewigen; der Romanik wie der Gotik dienten vorchristliche Tempel als Fundamente und Materiallieferanten. Es ist ein Glück, dass sich aus den brüchig gewordenen Steinen gotischer Kathedralen keine Regierungspaläste mehr errichten lassen, sonst würde es längst keine der alten Meisterwerke mehr geben. Ohnehin geht seiner Auflösung entgegen, was die Alten an Architektur hinterlassen haben; alles wendet sich eben real, nur Menschen ändern sich nicht; wie sie geboren, so werden sie auch ins Grab gelegt.
Ich beginne also die Geschichte eines, der mehrfach gewendet wurde, ohne sich zu bessern, eine sehr gewöhnliche Geschichte, die mich zuletzt geradewegs zur Verbannung in ein Straflager und schließlich auf den Parnass führte, neben dem Zuchthaus das einem Zeitgenossen höchste erreichbare Domizil.
Bis jetzt dürfte mein Versuch, Müllhaeusen gerecht zu werden, auf keinen großen Widerspruch gestoßen sein. Bedenkt der Hörer oder Leser nun aber die Schichten und Klassen dieses Gemeinwesens, seine gute Gesellschaft, das emsige Kleinbürgertum, das Volk der Beamten, Lehrer und der zwei oder drei Reichen, bezieht er Spießertum, die uns angeborene Niedertracht und das geistige Mittelmaß einer Kleinstadt in seine Betrachtungen mit ein, so bleibt nicht viel mehr übrig, als sich mit Bestürzung der Gegenwart zuzuwenden und von ihr Besserung zu erhoffen. Womit ich diese kurze sozialhistorische Betrachtung schließe.
Mein Geburtshaus lag am Adolf-Hitler-Platz, dem alten gotischen Rathaus gegenüber. Hätte ich schon sehen können, so wäre es ein Leichtes für mich gewesen, als Fenstergast den Ratssitzungen beizuwohnen und diese eventuell durch Schreien und Gesten in eine andere Richtung zu lenken. Seinerzeit, 1935, so wird berichtet, befand sich in der Mitte des Platzes noch ein Brunnen mit einer allegorischen Figur; sie ist irgendwann von einem Sammler demontiert und beiseite geschafft, später allerdings wieder aufgestellt und zuletzt an einen anderen Sammler verkauft worden, als der Magistrat in leere Kassen blickte. Am Rathaus links und rechts vorbei führen schmale kleinstädtische Gassen. Sie sind noch enger geworden, weil sie zur Hälfte als Parkfläche dienen müssen. Der technische Fortschritt verwandelte die alte Stadt in ein Labyrinth von Einbahnstraßen, Abstellplätzen und Tangenten. Bisher ist es noch keinem Ortsunkundigen gelungen in einer angemessenen Frist das Stadtgebiet zu durchfahren.
An den Marktseiten des Adolf-Hitler-Platzes gab es damals eine Plätterei, die Adler-Apotheke, das Hotel Zum Löwen und das Stadtcafé links; Jan, der letzte dieser Söhne sollte mir Spielkamerad und mein treuer Gefährte werden. Das Hotel spielt in meinem Leben insofern eine Rolle, als es meinem angeblichen Vater einige Wochen lang Asyl bot, und vieles sprach einmal dafür, dass ich in einem der Hotelbetten gezeugt wurde, obschon meine Mutter naiv-dreist die Behauptung aufgestellt hatte, ich wäre vielleicht durch überirdische Manipulation in ihren Körper gekommen; ein Vorgang, der sich seit der unbefleckten Empfängnis nicht wiederholt hat, sieht man von den Kunstgriffen der modernen Medizin ab, oder der im Schlaf begangenen lässlichen Sünde, jedem Beichtvater als eine der weiblichen Ausreden wohl bekannt und mit einem te absolvo leicht gesühnt. Konnte oder wollte meine Mutter über die näheren Umstände meiner Zeugung nichts mitteilen, so hat sie doch zeitlebens das Hotel Zum Löwen gemieden, und sich immer abfällig über die Qualität dieses Etablissements geäußert, wie auch ich mich gegen diese Mär vom verschollenen Vater instinktiv auf das Heftigste zur Wehr gesetzt habe ...
Hinter dem Rathaus lugte der sogenannte Pulverturm hervor. Der Sage nach wurden in ihm einige der Bauernführer der Aufstände des 16. Jahrhunderts bis zu ihrer Hinrichtung gefangen gehalten. Sie mögen von einer Wende geträumt haben, aus der dann auch nichts wurde. Der Turm ist ein solides gut erhaltenes Bauwerk aus dem frühen Mittelalter, direkt auf die Stadtmauer gesetzt, von welcher sich leider nur Reste erhalten haben, die in den gedruckten Stadtführern als malerisch bezeichnet werden, nichtsdestoweniger aber nur Schutt und Trümmer sind und auch damals nicht eben ansehnlich waren. Vor diesen Ruinen zieht sich eine Promenade, der Wall, rings um die Stadt, vorbei an dem schon erwähnten berühmten alten Gymnasium Justus von Liebig, aus dem so viele bedeutende Männer hervorgegangen sind; unter anderem ich als einer der Letzten in dieser stolzen Reihe Genies, wie übrigens auch meine Freunde, der spätere Physiker Karl Kniri, und als Überläufer aus dem Proletariat, Artus Hengst, eigentlich Pflaumenbaum, dessen Erzeuger einige Zeit im nahe gelegenen Konzentrationslager verbringen musste, weshalb sich Frau Pflaumenbaum von ihm scheiden ließ und wieder ihren Mädchennamen Hengst annahm; darauf starb sie. Artus kam nunmehr als ein Hengst wieder zu seinem Vater Pflaumenbaum, der zum allgemeinen Bedauern der Stadtbevölkerung aus dem Lager entlassen worden war und fortan als städtischer Angestellter still die Gassen kehrte, bis er schließlich nach einer weiteren Wende zum Stadtoberhaupt aufstieg, bevor er sich infolge einer weiteren Wende einfach erschoss! Zuvor kam der Streber Artus noch in und auf unser altes Gymnasium. Womit ich die aus uns Jungen bestehende Clique eingeführt habe.
In meiner Kindheit stand vor oder vielmehr neben dem Rathaus noch der Roland, als Zeichen unserer städtischen Freiheit; der echte Roland kam ins Landesmuseum, und eine Kopie wurde statt seiner aufgestellt. In diesem Tausch liegt eine traurige Symbolik. Überhaupt scheint die Stadtentwicklung mit Beginn der Neuzeit abgeschlossen. Jedenfalls hat sich keines der nachfolgenden Zeitalter nennenswert auszudrücken vermocht, abgesehen von der vorhin aufgezählten mittelständischen Industrie. Zwar wurde noch eine Eisengießerei gegründet und eine kleine keramische Anstalt, aber ihre Schornsteine blieben unter dem Niveau der Türme unserer Kirchen. An den Rändern der städtischen Bannmeile ließen sich Beamte und einige andere Angehörige des Mittelstandes in geschlossenen Villenvierteln nieder, unter anderem hauste der Vater Karls, der im Ruhestand lebende Oberstudienrat Kniri, mit Sohn und einer Wirtschafterin auf einem wunderbaren großen Grundstück am Waldrand, wo wir häufig zu Gast sein durften.
Mein Geburtshaus gehörte den Pontes bereits in zweiter Generation. Es handelt sich um eines jener alten schmalen Häuser, die mit spitzem Giebel dicht nebeneinander die Marktplätze mittelalterlicher Stadtzentren umsäumen. Erbaut haben soll es die Tuchmachergilde. Lange Zeit diente