Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
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Was ist aus jener Zeit noch zu berichten? In unserem Haus und in unserer Familie gab es keine nationalsozialistischen Aktivisten, keinen SA- oder SS-Mann, keinen Amtsträger, Großvater ausgenommen, der zum Blockwart des nur von uns bewohnten Knochenhauerinnungshauses ernannt und später Verteidiger unserer Stadt wurde. Aber alle Hausgenossen kamen herauf in mein Zimmer, um freudig zuzustimmen, wenn auf dem Rathaus Platz die Hitlerpartei ihre Anhänger sammelte, zum 1. Maifest, zum Erntedank, zur Sonnenwende und zu manch anderen Feierlichkeiten der Regierung der nationalen Erhebung. Mit Genugtuung lauschten wir den Fanfaren, die zu uns heraufschmetterten und selbst ich Winzling soll mit dem kleinen ungelenken Fuß den Takt des Badenweiler Marsches gewippt haben, der Lieblingsmusik des Führers.
Im Mai des Jahres 1935 war ich zur Welt gekommen; bald konnte ich sprechen, nicht so vollendet wie später, als ich der Pflege meiner Muttersprache die volle Aufmerksamkeit schenkte, bis ich in die Hände der Schauspiellehrerin Charlotte Lingen-Lebruyn geriet und vermittels Kieselsteine im Munde neu zu artikulieren lernte. Ich lief in der Stube hin und her, warf dies und jenes um, verlangte mit sehnsüchtigen Gebärden nach den beiden Büsten, von denen ich oben sprach. Sie wurden mir verweigert, als zum Spielen ungeeignet. Das Leben ging seinen ruhigen Gang, in unserem Städtchen geschah nichts, oder es geschah später als anderswo und bei niedrigeren Temperaturen. Beispielsweise hatten auch wir unsere Kristallnacht, an der ein paar Leute auf dieser wie auf der anderen Seite mit unterschiedlichen Empfindungen teilnahmen. Immerhin: Glas habe sich bei Jakob in angstvoll gesehenen Bildern gezeigt, schrieb Mama, als ihr kurz vor dem Geschehen eine Kristallvase aus den Händen glitt und zerbrach; da habe der hellsichtige drei Jahre alte Knabe aufgeschrien, ohne das Bevorstehende mitsamt seinen Folgen in Worte kleiden zu können. Indessen besaß die Stadt in einem versteckten Winkel eine Synagoge, die merkwürdigerweise nicht von uns, sondern von einer britischen Fliegerbombe in Brand gesetzt wurde und verbrannte. Und selbst wenn es mir vergönnt gewesen wäre, zu schildern, was in meinem Inneren vor sich ging, wahrscheinlich gar nichts, so entsprach die Reife der Erwachsenen um mich kaum ihrer Fähigkeit, Geschichte zu machen oder sie bloß zu verstehen; sie wären keineswegs auf der Höhe meiner Visionen gewesen.
Ich sollte noch sagen, dass mir in jener Zeit erste erotische Gaben zuteilwurden. Ob sich indessen mein sexuelles Leben auf das ungestillte Zärtlichkeitsbedürfnis meiner armen Mama zurückführen lässt, die kein anderes Objekt ihrer Liebe als mich besaß, auf die heißen Bäder, die mir Großmutter bereitete, oder ob es sich einfach um einen mir angeborenen tierischen Trieb zur Fortpflanzung handelt, will ich nicht entscheiden, auch kann natürlich von keinem Ödipuskomplex oder der heimlichen männlich-weiblichen Kastrationsangst die Rede sein, denen der Meister des nicht Vorhandenen solche enorme Wirkungen auf unser Versagen beim praktischen Gebrauch unserer Möglichkeiten zuschreibt. Mein Penis wie mein Hirn ahnten also nicht, was er ihnen zugedacht hatte. Bereits in meinem dritten Lebensjahr regte sich allerdings mein Fleisch, zum Erstaunen Mamas, die hinter diesem Eintrag in ihr Buch ein Fragezeichen setzte. Nahm mich eine Dame auf den Schoß, so habe sie gewärtig sein müssen, dass sich mein Verlangen darauf richtete, ihre Brüste zu betasten und sie intensiv zu belecken. Mit kühlem Gesichtsausdruck soll mich diese oder jene von sich gewiesen haben, als ein allzu aufdringliches Kind. Allein es kamen keine Damen zu uns. Diese Nachrede könnte zu den Legenden meines Lebens zählen; an sexuellen Empfindungen ist mir aus jener Zeit nichts in Erinnerung geblieben. In diesem Punkt bin ich ganz auf Erwachsenenberichte angewiesen oder auf die Lehre des Hellsehers Sigmund Freud ...
2. Kapitel
Fortschritte in Feinsinnigkeit und Weltläufigkeit lassen sich immerhin feststellen, als ich meine Familie zu analysieren begann; une femme sotte est une benediction du ciel, eine dumme Frau ist eine Wohltat des Himmels, fand auch ich wie der vielerfahrene Voltaire vor mir bald heraus. Eine mit Einfalt gesegnete Familie sichert uns auch glückliche Kinderjahre, vorausgesetzt, der heranwachsende Knabe zeigt sich den Hausgenossen geistig gewachsen, so wie es bei mir der Fall gewesen ist. Übrigens bin ich ein Anwalt der Kinder geworden, angesichts der vielen Verbrechen, die ungesühnt an diesen Wesen verübt werden. Naturgemäß sind sie den listenreichen, ihnen an Kraft überlegenen Erwachsenen ausgeliefert, aber es gibt eben auch jene zierlichen Däumlinge, denen der Himmel Witz genug gab, den mächtigen Großen erfolgreich zu trotzen, und ihre Verlogenheit und Herrschsucht beizeiten zu durchschauen. Gewiss, man kann die kleinen Geister schnell vernichten, kann sie biegen oder brechen, um der Welt endlich jene verbogenen Produkte zu präsentieren, die sich wie Uhrwerke bewegen, Triumphe didaktischer Systeme, wo verwegenere, eigenwilligere Kinder ihre besonderen Wege suchen und allzu oft an sich selbst zugrunde gehen, sei es an einer Krankheit oder einer Droge oder einer Unterart davon, der Liebe. Was ich aus meiner Erfahrung zu berichten habe, liegt ganz auf der Linie selbsthelferischer Aktivität. Mag sein, dass solche Kraft eine Gabe des Himmels ist; ich jedenfalls schnitt im Kampf mit oder gegen meine Familie nicht übel ab. Ich träumte viel mit offenen Augen, wird erzählt, und ich will nicht widersprechen, aber hinzufügen, dass ich sie mit halb geschlossenen Augen belauerte, wie der ruhende Leopard auf seine Beute wartet, immer auf der Hut vor ihnen, vor den angeblichen Wohltaten, die sie mir bezeigten, wie den Verfolgungen meiner verborgenen, ihnen unangenehmen Laster.
Mich beeindruckte das Porträt eines erstaunlich dicken Mannes, von dem der Alte behauptete, er heiße Friedrich der Weise und habe eine Ente zum Frühstück verzehren können, eine respektable Leistung, wenn man bedenkt, dass dieser Fürst noch Zeit fand, zusammen mit seinen Amtsgenossen die deutschen Verhältnisse gründlich zu verwirren. In der Folge flößten mir alle fetten Menschen Respekt ein, schon deshalb, weil ihnen niemand untersagen durfte zu essen, was und wie viel sie wollten.
Aber es geschah wohl frühzeitig, dass mir die hispanisch-kreolischen Züge meines Vaters erschienen, jenes hervorragenden Mannes, welcher eines Tages in Müllhaeusen aufgetaucht war, um Quartier im Hotel Zum Löwen zu nehmen, ein Senor, der alle Welt bezaubert haben dürfte, wenn man voraussetzt, dass sich Mama für alle Welt hielt und noch hält. Von ihm besaß ich die schon erwähnten Hinterlassenschaften. Auf der Meerschaumspitze war ein Pferd zu sehen, das einen Menschen trug. Gefesselt lag er auf dem Pferderücken, er nannte sich Mazzeppa, wie Großvater erklärt hatte. So mischten sich in meine Vorstellungen allerlei Unsinn vom Argentinier und vom unglücklichen Mazzeppa, der eine im Hotel residierend und sich in Luft auflösend, der andere auf ewig an den Meerschaum gefesselt. Die Spitze schmeckte nach einem bitteren Stoff, und Großmutter verbot es mir, daran zu saugen, weil ich danach wie ein Teerfass röche. Ich aber mochte nicht glauben, dass dieser Kavalier zu seinen Lebzeiten mit Teer oder etwas ähnlich Schmutzigem in Berührung gekommen war.
Aus dem Alter herausgekommen, wo ein Kind alles in den Mund steckt und verzehrt, was verdaut werden kann, sich also die Welt auf die ursprünglichste Art und Weise einverleibt - Kannibalen verharren in diesem Zustand, bis sie selbst in die Mägen ihrer Angehörigen gewandert sind, nachdem sie ihrerseits jene dezimiert haben, wurde ich von Mama mit Erinnerungen gefüttert. Märchen bekam ich keine zu hören, Märchen hielt sie für kindisch, aber ich war ein Kind, und es wäre mir zugekommen, in Märchenwelten zu leben. Mama gab mir auch kein Spielzeug und keines jener Bilderbücher, mit denen man die Fantasie der kleinen