Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
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Unser Reichskanzler Adolf Hitler hatte, nolens volens, eine kürzere Geschichte. Abgesehen von seinem Glauben an die NSDAP, der er zeitig beigetreten war, verehrte der Alte den Führer als Menschen und vertrieb dessen Büste in verschiedenen Größen und Ausführungen in seinem Laden, dreist behauptend, der bemalte Gips bestünde aus echtem Rotguss. Die mir zugefallene Skulptur hatte einen Schaden; durch den Bronze vortäuschenden und braun angestrichenen Gips ging ein feiner Riss; so kam sie auf meinen Schreibtisch. In meinem hohen Lehnstuhl ging ich beinahe verloren, wenn ich auf einem sogenannten Tischklavier Etüden übte, wie sie mir Großvater beizeiten aufgab, der ein wirklicher Musikant war, mit einem feinen Gehör für den rechten Ton. In seinem Verein sang er stets die Tenorsoli. Ich wuchs heran, wie jedes Kind heranwächst; mag sein Eintritt in die Welt nun begrüßt worden sein oder nicht. In meine erste Lebenszeit fällt eine Begebenheit, die zwar ein ungünstiges Licht auf Mama wirft, aber erwähnt werden muss, weil sie die Verhältnisse meiner Familie zu Doktor Wilhelmi und untereinander aufhellt.
Die Pontes verdienten ihr Geld neben den Uhren durch den Verkauf billigen schönen Schmucks jener Art, der von Ignoranten als Talmi bezeichnet wird. Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm; besonders nicht die Welt des schönen Scheins, muss hinzugesetzt werden. Schrie ich, verlangte ich nach mehr Fürsorge, so gaben sie mir einen von den großen oder kleinen Klunkern aus der Ladentheke, in der dieses Zeug schlummerte, was allemal höchste Seligkeit bei mir hervorrief. An dem Scheingold herumsaugend, verschluckte ich eines Tages eine Brosche, diese setzte sich im hinteren Rachenraum fest und war von keinem der Hausgenossen wieder zu entfernen, auch nicht vom Dienstmädchen, dem vernünftigsten Wesen im Knochenhauerinnungshaus. Ich schrie, Zeter und Mordio, wie man wohl gesagt haben mag, wurde blau im Gesicht, man fürchtete, ich würde ersticken, und schickte eilends nach dem Arzt. Doktor Wilhelmi stürzte herbei und brachte nach einer kleinen Operation die Brosche wieder ans Tageslicht.
Glücklicherweise sind Arzt und Seelsorger in unserem Haus immer zur Hand gewesen, wenn es nötig war, und sie haben ihre Pflichten redlich erfüllt. Zur Nachbehandlung brachte mich Mama jeden zweiten Tag in die Praxis. Arzt und Patient hatten jedoch nicht lange miteinander zu tun. Ich wurde ins Wartezimmer geschoben. Mein lauschendes Ohr will noch heute heiteres Lachen vernehmen; die Melodie eines Liedes mit dem schönen Anfang: Hörst du mein heimliches Rufen von einer Schallplatte geschnarrt. Auch Kussgeräusche vernahm ich und die schwachen Seufzer der Lust, was ein süßes und unbestimmtes Gefühl in mir ausgelöst haben mag. Schon strebte ich allen künftigen Seligkeiten zu, ohne vorerst zu ahnen, worum es sich handelte. Alles nimmt ein Ende, und diese schönen Gänge nahmen auch eins. Großmutter gab nämlich zu verstehen, dass der Ruf der Familie durch die Existenz eines unehelichen Kindes genug angeschlagen sei, und dass sie es verhindern werde, unser Ansehen weiter zu belasten. Es rede schon die ganze Stadt von dem sittenwidrigen Verhältnis Mamas zu diesem Arzt. Darauf erwiderte Mama mit tragischem Ausdruck, ihr sei es gleichgültig, was andere Leute über sie tratschten. Es handelte sich um eine ihrer ständigen Redensarten. In Wahrheit achtete sie auf ihren Ruf, wie in einer Kleinstadt unter Mittelständlern auch nicht anders möglich. Sie stehe allein, behauptete sie treuherzig unverfroren und entgegen der Wahrheit, aber das Kind, gemeint war ich, dürfe nicht unter ihrer Ächtung durch gehässige Spießer leiden. Großmutter sagte darauf, sie verstehe nicht, was ihr diese ungereimte Rede beweisen solle, habe sie doch um nichts anderes ersucht als darum, kein zweites Kind in die Welt zu setzen ohne gestiftete Ehe und elterlichen Segen. Heuchlerisch sprach Mama, ob sie denn glaube, sie sei so wahnsinnig und auf diesen Arzt hereinfalle? »Ja, das glaube ich, liebe Tochter«, soll meine Großmutter Clara Katharina Ponte trocken erklärt haben, was ihr durchaus zuzutrauen, und so steht es in Mamas Tagebucheintragung.
»Und weil vorbeugen nun einmal besser ist, als heilen, gehe fortan ich mit Jakob zu diesem Doktor Wilhelmi.«
Worauf sie, also Mama, mit dem Fuß aufgestampft und geschrien habe, sie werde sogleich zusammen mit ihrem Sohn dieses Haus und diese verfluchte Stadt für immer verlassen und in die große weite Welt hinausziehen, so wie sie stehe, zumindest bis Eisenach oder bis Weimar, und jedenfalls käme sie nie mehr zurück. So steht es wiederum im Tagebuch.
Man kann aus späterer Sicht natürlich all das als eine von Mamas Lügen bezeichnen, allein eine solche Feststellung würde uns nicht weiterhelfen. Diese Drohung sollte sie oft wiederholen! Daraus ist zu lernen, besser keine überprüfbaren Einträge in einem Tagebuch anzulegen. Nach Großmutters Eingreifen besserte sich mein Gesundheitszustand überraschend schnell. Die Verletzung blieb ohne ernstere Folgen, für mich und vor allem für Mama, aber ich behielt doch eine kleine Narbe im Rachen zurück, die sich lange Zeit mit der Zunge fühlen ließ, schließlich aber ganz verschwand.
Meine Zeit verbrachte ich gern in Großvaters Werkstatt, drehte meinen Kopf wie ein Wendehals nach dem hundertfachen Ticktack der Uhren, großen und kleinen, oder ich sah zu, wie Mama und Großmutter Schmuck verkauften, Uhren zur Reparatur annahmen und ausgaben, und es war schön zu sehen, wie anmutig sich Mutter und Tochter hinter dem Ladentisch bewegten, die eine im blauen, die andere im roten Kleid gleichen Schnittes. Sogar ihre Gesichter glichen sich, wenn sie die Kundschaft hineinlegten. Mit rascher Handbewegung klemmten sie sich Lupen ein, stellten unsichtbare Schäden an Uhren fest und überschlugen die Reparaturkosten. Fielen jene hoch aus, so erhielt die Kundin einen mitfühlenden Blick, lagen sie niedrig, so steigerte sich das Lächeln, als verschenke die Firma Geld. Wir zeigten uns vorgeblich am finanziellen Geschick unserer Klientel interessiert. An Festtagen schrieben wir Schilder: Unserer werten Kundschaft ein angenehmes Fest und ein gesegnetes Neues Jahr! Mit Deutschem Gruß! Heil Hitler! Aber Geld verschenkten wir sicherlich nicht. In der Kirche Sankt Sebastian hatten wir unsere angestammten Plätze im Mittelschiff in der dritten Reihe ganz außen wegen des Kinderwagens, in dem ich mitgeführt wurde. Einstweilen lag ich zwar noch in dieser Karre, aber ich gehörte durch Geburt dazu, beobachtete, wie sie auf die Knie sanken, sich erhoben, im Chor ein Confiteor murmelten; sie, die an Geld glaubten und vielleicht nicht mal das, hätten wohl mit Nestroy sagen können: Geld verachten wir, nur Kapitalien sind wir in der Lage anzunehmen, leider aber fiel ihnen kein Geld vom Himmel trotz vieler Gebete. Beim Credo, einem Begriff, den unser lieber Verwandter Hochwürden Fabian, später für mich um zwei Worte bereicherte, um credo ut intelligam, glauben, um zu begreifen, oder wie man sonst übersetzen will, ein Einfall des großen Gelehrten Anselm von Canterbury, taten sie so, als glaubten sie wirklich an den Gott der Kirchenlehre und nicht an einen Dämon in ihrem Inneren. Störte ich, lenkte ich von der Handlung ab, weil ich den Singsang der Priester und das Klingeln der Glöckchen durch fröhliches Trallala und glucksendes Lachen begleitete, so als sei ich bereits des himmlischen Manna teilhaftig, gab es gelegentlich Proteste. Vonseiten der Geistlichkeit wurde Großmutter bedeutet, sie hätten mich zu Hause zu lassen. Ihrem Einwand, Kindern sei nach der Lehre das Himmelreich, hielt der Meister Fabian sachverständig entgegen, das Himmelreich wohl, nicht aber das Gotteshaus. Da verfielen sie auf den Ausweg, mir durch Doktor Wilhelmi Beruhigungsmittel in Form gehälfteter und in Wasser aufgelöster Pillen zu verabreichen. Weil ich alles gierig schluckte, was mir in den Mund gesteckt wurde, oder was überhaupt in den Bereich meines Schlundes kam, so durfte ich weiter an gottesdienstlichen Handlungen teilnehmen und ward regelrecht drogensüchtig, was sich später glücklicherweise wieder verlor, nicht aber die Erinnerung daran. Orgelmusik brauste durch Sankt Sebastian, ich aber genoss im Dämmerschlaf den Lärm, der über und unter mir, von allen Seiten und Richtungen auf- und abschwoll, als rege der große Gott meinetwegen seine Schwingen ...
Die Jahreszeiten wechselten, und um das Kapitel von Geburt und frühester Kindheit abzuschließen, sei noch gesagt, es war keine ganz üble Welt und auch keine schlechte Wahl, bei den Pontes in einer mittelalterlichen deutschen Kleinstadt als uneheliches Kind auf Zeit abgeliefert worden zu sein. Meinen ersten Geburtstag feierte ich aufrecht sitzend und wegen der Maiwärme nackt wie das Dalai-Lama-Kind auf einem Seidenkissen, als ein zu höchstem Glück berufenes Wesen,