Jakob Ponte. Helmut H. Schulz
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In reifem Alter, auf der Suche nach Halt, bin ich dazu gekommen, die wichtigen Daten meines Lebens mit denen der Weltgeschichte zu vergleichen, und ich gelangte zu erstaunlichen Resultaten. Just als ich es mir wohl sein ließ, begann zum Beispiel die Schlacht bei Brunéte, einem Ort im Spanischen Bürgerkrieg. Sie dauerte zwei Tage und endete mit einem Sieg beider Seiten. Dieser Fall ist in der Kriegsgeschichte nicht so selten, wie mancher glauben mag; des Öfteren haben große Schlachten zwei Sieger gesehen, denkt man nur an Borodino, wo die Grande Armée ihre numerische Überlegenheit einbüßte, Kutusow zwar geschlagen abzog, sich jedoch auch als Sieger bezeichnete. Das weltgeschichtliche Panorama um mich herum war in der Tat lebhaft bewegt. Mama berichtete in ihrem Tagebuch, dass ich mich bei großen Ereignissen geschichtsfühlig verhielt. Jakob vermag historische Ereignisse vorherzusagen, hieß es, was mich jedem Historiker weit überlegen machen würde, träfe es zu, der mehr ein Prophet des Rückwärtigen ist und sich auch dann noch in seinen Auslegungen häufig irrt.
Meist begann die Sache mit einem allgemeinen körperlichen Unwohlsein, mit Brechdurchfällen, Migräne und dergleichen. Diese Zustände verschwanden bei Eintreten des unheilvollen Ereignisses, und so wurde schon früh die Überzeugung meiner Großmutter, ich wäre zu Feinsinn und Weitläufigkeit geboren, bestätigt. Wenn ich damals noch nicht wirklich verarbeitete, was um mich herum geschah, so mag ich doch Eindrücke des Zeitgeschehens über die Reaktionen meiner Erzieher gut beobachtet und ihnen die Deutung meiner Äußerungen überlassen haben. Darüber zu berichten, sehe ich mich ermutigt, weil in unserer Zeit, wo alle nur noch an das glauben wollen, was sich mit den Sinnen wahrnehmen lässt, paradoxerweise die Abkehr vom Materialismus zu beobachten ist. Es spukt neuerdings in den aufgeklärten Köpfen, Fiktion jenseits des Wahrnehmbaren ist wieder Objekt des Denkens, der Psychoanalyse, der Phrenologie, besser heute als Neurologie bezeichnet, namentlich auch in der unterhaltenden Literatur. Es lebe die Metaphysik! So muss es denn erwähnt werden, was ich in jener Zeit sah, wie etwa der Reichskanzler sein Frühstücksei aufklopft, zufrieden mit sich. Er hört keinen Schuss in seinem Hauptquartier, er hört die Lerche; er ist ein Frühaufsteher wie alle genialen Menschen, tritt ans Fenster, jenes berühmte Fenster am Königssee, welches die Natur in einem ungewöhnlichen Ausschnitt zeigt, trägt dunkle Hosen und hellen Waffenrock. Um diese Zeit hat Mister President seine Ansichten über die von Gott vorherbestimmte Rolle Amerikas in der Welt in einer Denkschrift niedergelegt; allerdings kommt der pragmatischen Proklamation seiner Vier Freiheiten eine mehr museale Bedeutung als Realität zu. Vor seinem Haus stehen Tannen; wenigstens in meiner Art des Erlebens, ich sah überdies einen breiten Strom glänzen, bis hinauf zum Präsidenten. Seine Denkschrift bereitet Amerika auf den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg vor, der erst noch ausbrechen soll, Botschaft an die Nation. Mister President als Botschafter der Nation, Entdecker der Vier Freiheiten, an deren Verwirklichung die Welt bis heute verzweifelt arbeitet. Eben löscht der Generalissimus auf der anderen Seite der Erde das Licht. Es brannte die ganze Nacht, wie der Dichter nicht müde wird hervorzuheben; der Generalissimus ist kein Frühaufsteher, er überbietet alle früheren Genies, er schläft überhaupt nicht, wacht ohne Unterbrechung. In dieser Nacht hat er Briefe gelesen, warnende. Der Reichskanzler plane einen Überfall. Die Mahner hatten eigentlich nie aufgehört zu mahnen, solange bis sie lästig wurden, denn der erhoffte, der erwartete Überfall ließ auf sich warten, ja, das Verhältnis zum Reichskanzler hatte sich sogar noch verbessert. Todfeindschaft schlug um in Todfreundschaft, durchaus logisch, denn die Staaten aus der Zeit des Cordon sanitaire standen dem Reichskanzler ebenso feindlich gegenüber wie der russischen sozialistischen Union. Auf einer Freitreppe zeigt sich mir der Duce zu Pferde, beweisend, dass ein wirklicher Staatsmann jeden Gaul eine Treppe hinaufbugsieren kann, ohne sich den Hals und dem Gaul die Beine zu brechen. An diesem Morgen hat der Duce noch nichts geleistet, ausgenommen in Äthiopien, zum Schaden des Negus, dem Löwen von Juda; er ist allerdings ausgeritten, falls dies erwähnenswert ist. Der Staat kann schon mal eine Stunde lang ohne Lenker auskommen, zumal dieser sogleich das Reitgeschirr mit dem Staatsgeschirr vertauschen wird. Ein Premier betritt die Arena, um zu verkünden: I would say to the house I have nothing to offer but blood, toils, tears and sweat ... Mama schrieb ins Tagebuch: Jakob kennt sie schon alle mit Namen; zeigt man ihm die Bilder der Staatsmänner äußert er Zustimmung oder Abscheu, ganz so wie es in den Zeitungen steht.
Genug, der geneigte Leser wird an der Wiedergabe dieser Probe meines Könnens und Mamas Eintragungen erkennen, dass Inspiration und Sehergabe keine gering zu achtenden Gaben, und dass sie vor allem keine Glücksache sind. Hätte meine Familie eine wirkliche Anlage zur Prophetie besessen, die Mama mir unterstellte, so wäre ihr manches erspart geblieben, und wäre unser Volk gleich mir gerüstet gewesen, wer weiß, welchen Gang die Geschichte genommen hätte, aber schließlich wendete sie sich auch ohne meine Mithilfe nach dem ihr eigenen undurchschaubarem chaotischen Gesetz des Allmächtigen Chronos. Erwachte ich aus meinen düsteren und quälenden Träumen, so blickte ich in ratlose Augen. Meine Familie, Doktor Wilhelmi und selbst Hochwürden standen meinen Höhenflügen, die Mama ihnen aufredete, hilflos gegenüber. Wie sie berichtete, bildeten sich Schweißtropfen auf meiner reinen kindlichen Stirn; unnatürlich geweitet seien meine übrigens tuscheschwarzen Augen gewesen, und mein Puls sei nach den Feststellungen des Arztes zu schnell gegangen. Mama schrieb übertreibend: wie ein Maschinengewehr.
Danach, das heißt nach Eintritt des von der Geschichte produzierten Ereignisses, sei ich in einen Erschöpfungsschlaf gefallen, aus dem heraus ich bisweilen unartikulierte Laute im sogenannten Zungenreden gestammelt habe. Schließlich, als ich später dieses System begriffen hatte und mich willig verleiten ließ meine seherischen Fähigkeiten abzurufen, wann immer sie wollten, konnte ich zwar noch keine Mitteilungen von den geschauten Bildern machen, wohl aber Signale aufnehmen, die andere aussendeten und weitergeben. Laut Überlieferung fielen die Interpretationen meiner Zustände sehr unterschiedlich aus. Großvater meinte, alle Träume kämen aus dem Bauch, ich hätte mich überfressen; allerdings ist meine Esslust groß gewesen. Großmutter, die sich immer zurückhielt, bis sie sich eine Meinung gebildet hatte, schwieg. Mama ging umher und legte mit einer ihrer charakteristischen Gesten die Fingerspitzen an die Schläfe, versichernd, sie wisse nicht mehr weiter mit diesem genialen Knaben. Doktor Wilhelmi mag sie getröstet haben, die Wahrheit müsse ertragen werden, eine Wahrheit, die in überreizten Nerven bestehe. Aber sie, Fräulein Ponte, würde mit der den Frauen eigenen Zähigkeit durchhalten bis zum Ende; er hoffe nicht, dass sich die bei mir beobachteten Symptome zum klassischen Krankheitsbild der Schizophrenie ausbilden würden, keine ganz ungefährliche Diagnose in diesen Zeiten und Folge eines in rassischer Beziehung womöglich leichtfertig eingegangenen sexuellen Verhältnisses ...
Ach, es war ein Schelmenstück, das sie um meinetwillen aufführten! Er kannte die Wahrheit nur zu gut. Vermutlich habe ich Doktor Wilhelmi durch ein mir früh zugeschriebenes seelisches Ungleichgewicht dahin gebracht, zu sich selbst und zu den Phänomenen des Geistes über das einem Arzt durch die Universität seinerzeit vermittelte Wissen und der gewöhnlichen Klinikpraxis hinauszufinden. Stehe nicht an, kühn zu behaupten, aus ihm einen Neurologen und Freudianer gemacht zu haben, als jener gerade in England Asyl gefunden hatte, worauf er allerdings verstarb. Zu Doktor Wilhelmis persönlichen Wenden gehört übrigens der Wechsel von den rassehygienischen Anschauungen zur Genetik und einem gewissen Freudianismus, oder schon darüber hinaus, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. An diese Prognosen und Spekulationen über meinen Gesundheitszustand beteiligte sich Hochwürden Fabian in der durch seinen Beruf und sein Kirchenamt vorgeschriebenen Art und Weise, wie er mir später, als ich mehr von den Dingen zwischen Himmel und Erde verstand, erklärt hat. Niemand habe schließlich wissen können, was in mir vorgegangen, ob nicht der Exorzist anzurufen sei, um den Fall zu klären, ja, er selbst sei beinahe zum Teufelsanbeter geworden, was ja letztlich die Bestimmung des katholischen Geistlichen.
Muss gesagt werden, dass Doktor Wilhelmi solchen Auslassungen