Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Jakob Ponte - Helmut H. Schulz страница 9

Jakob Ponte - Helmut H. Schulz

Скачать книгу

Alle ihre Hoffnungen kreisten um den einen Punkt, ihrer Flucht aus der Stadt. Mit Macht zog es sie in die Welt hinaus, aber sie besaß nicht die Mittel, ein unabhängiges Leben zu führen. Großmutter hielt Geld und Familie zusammen. Wenn Mama flehte, uns ziehen oder sie allein gehen zu lassen, prophezeite Großmutter ihr den Untergang. Aus mir machte Mama einen kleinen Erwachsenen, der auf Blockflöten Motetten blies, während sie selbst die Querflöte recht gut handhabte und Großvater das Harmonium traktierte. Solchen Konzerten pflegte sich Großmutter wie alle auf Gewinn eingestellten Naturen mürrisch zu entziehen. Sie flüchtete in einen ruhigen Winkel des Hauses; mit anderen Worten, sie war unmusikalisch, wie das bei auf Praxis und Erwerb gerichteten Menschen häufig der Fall ist, die fragen, was das Billett kostet, ehe sie ins Konzert gehen, die einen billigen Platz im dritten Rang des Hauses kaufen und hinterher finden, dass sich die Ausgabe nicht gelohnt habe.

      Von meinem Vater besaß ich in jener ersten Zeit meines jungen Lebens also die Vorstellungen einer betrogenen Frau; das Foto zeigte den Argentinier als ein Produkt intensiver Rassenmischung. Er sah aus wie ein Tangogeiger mit pomadisiertem, glatt gekämmtem schwarzem Haar und dünnem Lippenbart, den Mama einen Menjou nannte. Mir gefiel mein Vater nicht; sein Bild und Mamas Erzählungen nahmen mich überdies gegen ihn ein. Auf dem Foto stand eine Widmung, Hasta la vista, Worte, denen Mama diesen Sinn gab: Hastig wie das Leben. Sie spann ihren Faden. Mein Vater besäße sicherlich enorme Ländereien in Südamerika, auf seinen Weiden würden sich Millionen Rinder tummeln. Man pflege sie dort nicht zu zählen, anders als hier, wo jedem Kuhschwanz eine Schleife angebunden und jedem Ochsen eine Glocke um den Hals gehängt werde. Dort trügen die Caballeros, so hießen dort die besseren Leute, mit Silber und Gold besetzte Kleider und ritten auf wilden Pferden, wie es ihrer Würde entspreche. Wir hier führten ein trostloses Leben, aber wir würden weggehen, auch wenn sich die Alten noch so dagegen sträubten. Was Wunder, dass ich meinen vermeintlichen Vater über die Weiden Argentiniens reiten und die Köpfe seiner Rinder zählen sah, wenn nicht zählen, so sie doch mit Blicken schätzen. Es kam ja wahrhaftig nicht auf ein paar Tausend mehr oder weniger an. Mit Großvater stritt Mama, weil er sich weigerte, den Unterschied zwischen einem südamerikanischen Rind und einer Bauernkuh als ein Problem der Rangordnung ihrer Halter zu begreifen.

      Inzwischen war der Krieg ausgebrochen. Großvater hatte die Nachricht zuerst mit einem Schreck quittiert, sich aber nach dem schnellen Sieg über die Polen begeistert in die Rolle des Heimatkriegers hineingefunden. Kriegstüchtige männliche Verwandte hatten wir nicht. Wenigstens kannte ich keinen, aber ich litt weder Hunger noch Durst, bekam zu essen, was ich verlangte. Mutter, Großmutter und Großvater unterzogen sich gern der Mühe, mir den Vielfraß von den Augen abzulesen. Es genügte, dass ich schrie, um meinen Willen durchzusetzen. Also dachte ich darüber nach, als ich denken gelernt hatte, in kindlichen Grenzen, wie ich mich ihren Ansprüchen an meine Arbeitskraft entziehen konnte. Sie verlangten manche kleine Leistung von mir, zu meinem Besten, wie sie sagten, weil sich früh krümmen müsse, was ein Häkchen werden wolle. Ich wollte kein Häkchen werden, und wollte mich demzufolge auch nicht früh krümmen. Dagegen wollte ich es lernen, mein Schicksal erträglich zu gestalten. Es ist übertrieben zu sagen, ich wäre nach einer Strategie vorgegangen, vielmehr regelte sich alles von Fall zu Fall instinktiv und wie von selbst. Rücksichtslos nutzte ich einen Vorteil aus, sobald ich ihn erkannte, und sie schlugen ihrerseits energisch zurück, falls ich ihnen dazu Gelegenheit bot und eine Schwäche erkennen ließ.

      Denke ich heute an diese sorglose Zeit zurück, so bin ich erstaunt, wie viel mir davon in Erinnerung geblieben ist, nicht an Geschehnissen, wohl aber an Eindrücken. Dabei stellt sich fast von selbst die Stimme meiner Mama ein. Durch das Donnern der Düsenjäger über meinem Kopf und den aufdringlichen Lärm aus einem halben Dutzend Radios in der Umgebung höre ich ihre sanfte Mahnung, nicht soviel Süßes zu essen. In welchem Schrankfach sie Konfekt aufzubewahren pflegte, war mir gut bekannt, und solange etwas davon vorhanden war, verlangte ich danach. Hingegen würgte ich den Spinat, den sie mich zu essen zwangen, weil er gesund sei, wieder heraus. Heuchlerisch erklärten sie wohl, vom Zuckeressen werde man krank. Mama bleckte ihre Zähne, um mir zu beweisen, wie gut sich diese durch Mäßigung erhalten hatten, aber sie trug nur einige Goldplomben, wie es die Mode damals erheischte. Selbstverständlich verlangte ich nur noch dringender nach Keks, Konfekt oder Schokolade, weil mich diese Esswaren gesund erhielten, mein Glücksgefühl mehrten, nicht aber der Spinat. Der Streit endete gewöhnlich damit, dass ich bekam, was ich wollte. »Du darfst nicht denken, Jakob, ich würde dir dieses Vergnügen nicht gönnen, im Gegenteil, ich würde dir die Welt schenken, wenn sie süß und genießbar wäre, aber das ist sie nicht!« Das widersprach meinen Erfahrungen; es gab sicherlich bei Weitem mehr Saures und Bitteres als Süßes; man musste nur verstehen, das Bittere zu vermeiden. Vermutlich habe ich Mama bei dieser Rede aufmerksam und dreist angesehen, ungerührt ihr Konfekt fressend. Sie fuhr fort in ihrer alten Leier: »Nichts erhoffe ich sehnlicher, als aus der Stadt wegzukommen, aus dieser verdammten Provinz, wenn dein Vater eines Tages hier erscheinen wird. Wir haben Krieg. Wahrscheinlich wird sich unser Volk nach dem Sieg über die Erde ausbreiten, will sagen, dann steht uns die Welt offen«, sie unterbrach sich, um mir eine Frage zu stellen, ob ich lieber in Amerika oder in Frankreich leben wollte. Zweifellos entging es ihr, dass eine vernünftige Antwort auf ihre Frage nicht in meiner Macht lag; sie stellte mir immer wieder solche Aufgaben. Da ich schwieg, entschied sie: »Also Frankreich. Ich bin auch für Paris. Man hat Lebensart in diesem Frankreich, obwohl ... « sie verzog den Mund. Großmutter kam und trieb sie in den Laden an die Arbeit.

      Übrigens hatte ich den Krieg vorhergefühlt; so ihr Tagebucheintrag. In jenen Tagen, etwas weniger als einem halben Jahr nach meinem vierten Geburtstag, glitt die Welt allmählich an den Rand des Abgrunds, wie ich ihrem sorgenvollen Gerede entnahm, obschon Großvater bald darauf über unsere Siege triumphierte. Was mir gegeben, das Ende vorauszusehen, das fehlte meiner Familie. Sie wiegten sich in trügerischen Hoffnungen. Mama, Tochter eines nicht unbemittelten Handwerkers und Ladeninhabers, eines Hausbesitzers und charakterschwachen Menschen, der seine Tage im Frieden mit sich und der Welt zu Ende bringen wollte, besaß das Herz eines Desperados; ihr fehlte nur der Anstoß zu tun, was sie sich sehnlichst wünschte, auszubrechen, mehr zu scheinen als zu sein, zu herrschen, eine größere Rolle zu spielen. Vermutlich hatte Großmutter recht; meine arme Mama wäre in einen Abgrund gesprungen, hätte ihr nur jemand verheißen, dort unten würde sie ihr Glück finden. Jedenfalls fühlte ich ihrer Beschreibung nach den August des Jahres 1939 hindurch eine Art Beklemmung in der Brust, was ein völlig neues Symptom bedeutet habe, weshalb sie Doktor Wilhelmi aufsuchen musste, um mich ihm vorzustellen.

      Wir besaßen kein Radio und hielten keine Zeitung. Erst im Laufe des Krieges kaufte Großmutter endlich das billige Goebbels-Radio. Ich nehme an, dass keiner von uns damals wirklich wusste, was draußen vor sich ging. Es interessierte sie auch nicht, solange das träge Leben und die frohen Feste wie gewohnt verliefen. Da sich meine Übelkeit hinzog, an der Doktor Wilhelmi nichts zu ändern vermocht hatte, bestand Großmutter darauf, den Rat des Geistlichen einzuholen. Sie trafen sich, da wir ihres Beistandes bedurften, an meinem Schmerzenslager und tranken gemeinschaftlich Kaffee, den Großmutter ihnen servierte, ehe sie ans Werk gingen.

      »Nun«, sagte Doktor Wilhelmi, Mama mit den Augen des Frauenkenners wohlgefällig musternd, »Fräulein Ponte, wie geht es Ihnen?« Er redete sie stets mit Fräulein an. Sie lächelte still, hob mit einer berechnenden Geste die rechte Hand bis in Kopfhöhe, sodass der weite Ärmel ihres seidigen Morgenrockes zurückfiel und ihren weißen nackten Arm und einen Teil ihrer runden Schulter sichtbar werden ließ, was selbst meine Jugend als ungehörig und berechnend empfand. Der Arzt, der meinetwegen erschienen war und sich nun an die Zeit vor ein paar Jahren erinnerte, als meine Mama und ich an den sprechstundenfreien Nachmittagen in seine Praxis geweilt hatten, seufzte auf, wohl in Erinnerungen an selige Stunden des Lasters. Ich will bemerken, dass Doktor Wilhelmi das war, was man in der Provinz eine blendende Erscheinung nannte, groß, schlank, helläugig; zu einem schmalen gut geformten Kopf, besaß er vortreffliche Manieren; kurz, er kam aus einer anderen Welt.

      »Nun«, sagte Hochwürden Fabian, seinen Gegner nachäffend, »nun könnten Sie eine Probe Ihrer Kunst ablegen, mein Herr!«

      Doktor Wilhelmi sagte spöttisch:

Скачать книгу