Jakob Ponte. Helmut H. Schulz

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Jakob Ponte - Helmut H. Schulz

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erklärte, dass ich in diesem unreinen Zustand keiner Messandacht, nicht einmal eines Stillgebetes würdig sei und zu Hause bleiben müsse. Kaum hörte ich die Haustür klappen, schlüpfte ich wieder ins Bett. Meine Erziehung war konfus, manchmal streng, dann wieder lax und wenig ehrlich. So konnte ich auch nicht anders werden, als mir vorgelebt wurde. Mit Vorliebe sprach Großvater vom Dichter Goethe und vom Fürsten Friedrich, wie schon erwähnt. Letzterer hatte es ihm angetan, obschon er ihn auch rüffelte. Einst sollte dieser Fürst, nach einem Wunsch des Papstes, Kaiser der Deutschen werden, und Großvater hatte herausgefunden, dass die Ablehnung dieser Würde Friedrichs Kardinalfehler gewesen sei.

      Dass sich der Fürst der Dichter von Kirchen und Religionen fernhielt, weil er seine eigene Religion besaß, wahrscheinlich gar keine, wenigstens keine geoffenbarte, und deshalb eigentlich zu kritisieren war, störte den Alte weniger. Künstlerische Gaben stammten in Großvaters Vorstellungen immer vom Schöpfer selbst, ein Widerspruch zwischen Gott und Talent war für ihn nicht vorhanden, wohl aber ließ er Strenge walten, wenn ich Achtelnoten wie viertel oder gar halbe Noten spielte. »Im Takt, Schafskopf, im Takt!« Der Alte bedeutete mir, wie viel jener Dichterfürst gelernt, wie freudig er sich jeder Mühe unterzogen hatte, um Erfahrungen zum Nutzen und Wohle der Menschen zu sammeln. Faulheit sei diesem Manne fremd, ja, verhasst gewesen. Diese Behauptung, eine Kritik an meiner zur Bequemlichkeit neigenden Lebensweise, wie ich wohl begriff, hielt meines Erachtens einer Prüfung aber nicht stand. Wenn Unsterblichkeit oder wenn bloß Ansehen mit so viel Aufwand errungen werden musste, wie das taktgerechte Notenlesen, dann war die Ökonomie des menschlichen Lebens gestört, die im Ausgleich zwischen Anstrengung und Ausruhen bestand. Vielmehr nahm ich damals an, dass Genialität in der Leichtigkeit bestand, sich die Welt anzueignen. Will sagen, ein Genie ist immer auch ein Genie an Glück, wie ich früh verstand; wer es hat, dem kälbert ein Ochs. Kindlich vorurteilsfrei wendete ich mich mit meinen Fragen an den Bronzekopf des Dichters und erhielt Antwort. Sie ruht bis heute in meiner Seele: Lebe frei von fremden Lehren und Doktrinen! Sei du selbst! Und lass die Leute reden!

      Ach, hätte ich mich nur daran gehalten und anderen kein Recht über mich eingeräumt! Nach einem langen Leben sehe ich Menschen gefeiert, deren Leistung in nichts anderem besteht, als einem jämmerlichen und beständigen Mittelmaß. Ewig bleiben die Anbeter des Fleißes in ihrem Schatten. Periodisch freilich steigt aus der Asche der Phönix auf, der den Erdball aus den Angeln heben will. Gelingt es ihm, dann immer zu unserem Nachteil. Menschen sind keine Genies, sie wollen keine sein. Die Giganten geistiger Arbeit werden manchmal unter die Götter versetzt, allerdings lange nach ihrem zeitlichen Ende, wenn ihnen die Erhebung nicht mehr nutzt. Schwerlich kann ich widerlegt werden, aber zurück zu den Erlebnissen meiner Kindheit, der solche Erkenntnisse natürlich verschlossen, wenn auch im Keim bereits vorgeformt waren ...

      Gelegentliche Erkrankungen waren ein Segen, dessen Wert ich bald erkannt hatte. Zuerst plagte ich mich mit Husten und Schnupfen, dann verstand es meine kindliche Abgefeimtheit, Nutzen aus meinen Leiden zu ziehen. Tatsächlich bin ich wirklicher Leiden schon früh fähig gewesen, begriff allerdings auch in jungen Jahren, wie viel Glück ich durch die Anwendung meiner natürlichen Anlage zu Verstellung und Lüge ziehen konnte. Heuchelei ist eine verbreitete Haltung in einer Welt schwankender Werte, und ich muss gestehen, dass mich neben den Vorteilen, die mir meine Verstellungskunst einbrachte, beinahe noch mehr die Rolle des Heuchlers selbst reizte. Vermutlich habe ich um dieser Rolle willen sogar Nachteile in Kauf genommen. Nur den Zahnarzt fürchtete ich wie den Tod, der einen lose im Kiefer hängenden Milchzahn mit einem barbarischen Ruck entfernte und mir triumphierend das blutige Stück Knochen in die Angst schwitzende Hand legte. Übrigens litt ich ja auch wirklich, wenn ich mich krank zu meinen Pflichten schleppte, bloß um andere zu täuschen. Ich spreche hier so ausführlich darüber, weil mir scheint, dass die Lüge alle gesellschaftlichen Ränge durchzieht, und neben der allgemeinen Neigung zum Verrat die zweite uns angeborene Eigenschaft ist.

      Wenig Gefallen fand ich an der Sucht meiner Familie, mir ständig Versprechen abzufordern, als Blankoscheck für alle Zukunft, etwa, nie mehr zu lügen, keine Süßigkeiten mehr zu essen und ähnlich Albernes. Dafür gab es auch große Verheißungen, die dem Versprechen des Himmelreiches gleichkamen. So sollte ich das Knochenhauerinnungshaus erben und Uhrmacher werden, durfte jedoch das Geschäft nicht weiterführen, wenn es nichts mehr einbrachte, sondern musste es verkaufen, einem Unwissenden andrehen, und ein anderes eröffnen. So die eine der familiären Visionen. Großvater empfand das Dasein eines kleinbürgerlichen Händlers und Uhrmachers als bedrückend, deshalb sollte ich seiner Ansicht nach lieber Künstler werden. Großmutter hingegen hielt den Besitz wie das Betreiben eines Geschäftes für das irdische Glück, mindestens aber für eine der sichersten Lebensgrundlagen. Mama bestand wie gesagt darauf, sobald es die Weltlage gestattete, die Kleinstadt zu verlassen und nach Südamerika oder nach Paris auszuwandern, notfalls in Eisenach oder in Weimar Station zu machen, oder sogar dort zu bleiben, wie ich schon berichtete habe, ohne zu bedenken, wovon sie leben würde.

      »Möchtest du nicht Uhrmacher werden, wie Großvater?« diese Frage enthielt eine Drohung, die ein Nein verbot. »Möchtest du mit deiner Mama nach Paris?« Dieser mütterlichen Nötigung konnte ich nur entgehen, wenn ich vorgab, noch zu schwanken. »Möchtest du nicht Künstler, Musiker werden? Wir könnten dich nach Weimar in das Konservatorium schicken.« Ohne meine Fähigkeit, sie zu belügen, wäre ich in diesem Dschungel aus Liebe und Verblendung verloren gewesen. Ich will ein Beispiel geben, wie ich mich durchwand.

      Einst stand ich mit dem Alten auf einer Eisenbahnbrücke. Wir blickten hinunter auf die Gleise, und Großvater fragte mich beiläufig, ob ich wohl Lokomotivführer werden wollte. Einen Augenblick lang mochte ich darüber nachgedacht haben, ob ich das wirklich wollte, ehe mir einfiel, was andere Knaben dazu geäußert hatten. Sie alle wollten Lokomotivführer werden, ein Grund für mich, es nicht zu wünschen. Hätte ich einfach ja gesagt, so wäre es zur unumstößlichen Gewissheit geworden: Jakob will Lokomotivführer werden! Warum will Jakob Lokomotivführer werden? Woher hat er das? Lassen wir ihn Lokomotivführer werden! ... Nichts lag mir ferner, Eltern und Großeltern zuleide und zuliebe wollte ich kein Führer werden, schon gar keiner von Lokomotiven. Nun kroch eine solche Dampfmaschine auf Rädern unten entlang, wie eine matte Raupe auf einem blitzenden Lineal. Der Mann, der sie lenkte, blickte mit ernstem, wenn nicht hoffnungslosem Ausdruck in den Augen zu mir hinauf, der es mir verbot, ihm auf diesem Weg zu folgen. Ich brauchte wahrlich keine Belehrung mehr, um zu wissen, was es hieß, Lokomotiven zu führen. Es bedeutete, eine dreckige Mütze auf dem Kopf zu haben, und in einen schmierigen Eisenkasten eingeklemmt zu werden, solange es andere wollten. Mit der Frage war ich also bald fertig, nicht so schnell jedoch mit der Antwort. Noch einmal schaute ich nach unten; der Mann winkte herauf. Ich versagte ihm den Gruß nicht, eine respektvolle Geste meinerseits für den Kapitän eines sinkenden Schiffes. Dann wendete ich mich Großvater zu und gab ihm eine meiner Visionen, ein Bild, das ich übrigens lange in mir trug und leicht beschreiben konnte: Ich sah mich wie der Prophet auf einer Wolke sitzen und Tafeln auf den Knien halten, von denen ich ablas, was andere an meiner Statt tun sollten, sicherlich sehr profane Dinge. Großvater schwieg bestürzt, dann schüttelte er den Kopf und sagte traurig: »Jakob, du bist verloren! Ein Taugenichts, auch wenn er ein Prophet ist, endet im Zuchthaus!« Er hatte recht. Wie soll ich sagen? Mein Ja zum ehrenwerten Beruf eines Lokomotivführers hätte Großvater, hätte sie alle befriedigt und als eine altersgemäße Äußerung hingenommen; einen Propheten wollten sie nicht, der sein Leben im Kerker aushauchte. Ich wäre jedoch der ganzen Herrschaft über mich selbst und durch mich selbst beraubt worden, hätte ich mich zu einem bürgerlichen Beruf bekannt, ehe ich meinen Namen zu lesen verstand! Vielleicht war es das, was ich unklar empfand und weshalb ich widerstand.

      Merkt es euch, ihr Knaben! Es mag Wunderkinder geben, zwölfjährige Dirigenten, die ihr Publikum beschwören können, an ihr Genie zu glauben, oder kleine Schachkönige, Knaben also, die durch listige Führung ihrer Treiber zu frühen Ehren kommen und die ihren Dompteuren Ruhm und viel Geld eintragen. Sie müssen jedenfalls ihre Anpassung an die Wünsche anderer teuer bezahlen; wenn der Wind des Lebens sie anbläst, schrumpfen sie zu Nullen, oder sie schlummern in ihrer eigenen Vergangenheit weiter bis an ihr seliges Ende, wie eine Larve in ihrem Kokon. Wie anders nehmen sich dagegen die unsicheren Sprünge der eigenwilligen

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