Die Bärin Roman. Wilhelm Thöring
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Читать онлайн книгу Die Bärin Roman - Wilhelm Thöring страница 14
„Ein Schlaumeier ist er, dein Grabenthin, der Herr Kalfaktor. Hatte wohl früher einen wichtigen Posten, bei dem er viel gelernt hat, was? Wie soll es besser und moderner werden? Geht dein Grabenthin zum Wahrsager und lässt sich aus dem Kaffeesatz lesen...“
„Ja, spotte nur! Ich glaube ihm. Mir leuchtet ein, was er sagt“, meint der Vater und langt nach seinem Hut, um zu gehen. „Wenn es über dich kommt, Mutter, dann gefällt es dir zu zweifeln, zu widersprechen und schwarz zu sehen!“
„So, das bin ich! So siehst du mich! Wäre ich so gutgläubig wie du, dann, dann...“ Sie weiß nicht, was dann wäre und lenkt augenblicklich ein: „Sag einmal, könnte der Grabenthin unserem Bruno nicht Arbeit verschaffen? Du siehst, wie der Junge sich vor Langeweile selbst nicht leiden kann. Ich finde, wenn der etwas zu tun kriegt, dann wird er umgänglicher.“ So ganz nebenbei sagt sie: „Die Urschel meint, ihm fehle eine Frau.“
„Was fehlt dem?“ Der Großvater lacht laut, dann meint er: „Ich werde den Grabenthin fragen. Vielleicht eine Arbeit im Pferdestall... Er erzählte mir, dass er eine Hilfe bei den Pferden gebrauchen könne.“
„Pferde? In der Eisengießerei haben sie Pferde?“
„Mutter, Pferde werden überall gebraucht. Sogar unten in den Kohlegruben.“
Die Großmutter murmelt vor sich hin: „Der Bruno als Pferdeknecht…“ Dann lauter: „Glaubst du, dass das eine Arbeit für den Bruno ist?“ Sie hat Zweifel. „Der Junge hat einmal Tischler gelernt. Aber Stallarbeit...“
„Wenn Grabenthin ihn nehmen will, dann kann man das dem Bruno anbieten. Er selbst mag entscheiden. Ich gehe jetzt.“
Ehe er die Küche verlässt, sagt er: „Wenn du Eier übrig hast, dann könnte ich damit auf den Markt gehen. Eier werden gerne genommen. Der Achim hat bald Geburtstag, sagt die Urschel. Er wünscht sich Obst, Apfelsinen, sagt er.“
„Woher kennt der Junge Apfelsinen?“
„Ich weiß es nicht, aber er würde gerne welche haben. Mutter, denk einmal darüber nach, ob du Eier zum Tauschen übrig hast, ein paar. Eier sind gefragt.“
Als der Achim Ende Juli seinen Geburtstag feiert, liegen zwei Apfelsinen auf dem Frühstückstisch, so groß wie seine Faust, und die Großmutter kann es gerade noch verhindern, dass er hineinbeißt. „Achim, die müssen geschält werden, nicht wie Kartoffeln, sondern so...“ Sie ritzt die Schale ein, löst sie von der Frucht und legt ihm die blutroten Spalten auf einen Teller. „So, nun kannst du sie essen!“
Aus Angst, dass der Wolfgang, der dabeisteht, auch zulangen könnte, zieht Achim sich mit dem Teller in eine Ecke zurück, und als er auf die erste Spalte beißt, brüllt er los und spuckt alles auf den Boden. „Sind die sauer!“, schreit er. „Das sind gar keine Apfelsinen. Die Soldaten, die haben richtige Apfelsinen, die schmecken! Das sind keine!“
„Nun mal sachte!“ Die Großmutter nimmt den Teller und streut ihm Zucker darauf. „Das hier sind auch Apfelsinen. Blutapfelsinen, weil die so rot sind. Die isst man mit Zucker. Sag einmal: Lässt du dir von den Soldaten Apfelsinen schenken? Haben die denn welche?“
„Bessere als deine.“
„So, so. Was musst du denn tun, dass sie dir so etwas schenken?“
„Die wollen meine Lieder hören.“
„Was sind das für Lieder?“
„Lieder vom Krieg. ‚Die Fahne hoch’ und ‚Bomben auf Engelland’, das hören sie am liebsten.“
„Das wollen die hören?“, wundert sie sich. „Solche Lieder darf man nicht mehr singen, Achim.“
„Doch, die Soldaten wollen sie hören, darum bekomme ich Apfelsinen, Schokolade, Bonbons und Kaugummi.“
Vorsichtig und zögernd drückt der Achim die Apfelsinenspalten in den Zucker und leckt ihn ab. Zum nächsten Geburtstag wolle er keine Apfelsinen mehr, sagt er. Da werde er sich etwas anderes ausdenken.
Ursula Andreae geht kaum noch zum Steineputzen auf die Straße, weil sie genug hat vom lasterhaften Gerede einiger Frauenspersonen, und weil sie im Winken, ja schon im Zulächeln der Soldaten auf ihren Bulldozern eine Aufforderung wittert, es wie andere Weiber zu machen und zu ihnen auf den Sitz zu klettern. Seit kurzem sitzt sie wieder öfter bei ihren Kindern, vor allem beim Marlenchen, das von früh bis spät am Schürzenzipfel der Großmutter hängt und ihr schon lange lästig ist. „Das Kind ist mir ständig um die Beine“, klagte sie. „Urschel, das Mädel ist wie ein junger Hund. Die bringt es noch dahin, dass ich stürze.“
Ursula hat sich mit dem Marlenchen vor die offen stehende Balkontür gesetzt und rupft Lappen, aus denen sie für das Kind eine Puppe fertigen will. Müde geworden, stumm und gelangweilt, sieht das Mädchen zu, wie die Mutter Lappen für Lappen auseinanderrupft. „Bist du wieder müde?“, fragt die Mutter, doch das Kind antwortet nicht, es hat die Frage nicht gehört, so dass die Mutter noch einmal nachfragt, worauf das Marlenchen sich nur noch fester an die Mutter schmiegt. Mit dem Mädel stimme etwas nicht, hat die Großmutter gemeint, Ursula solle mit ihr zum Arzt gehen. Urschel, wie kann ein so junger Mensch nur immerzu abgeschlafft und müde sein! Das Kind ist nicht gesund! Ursula brauste auf und meinte, ihre Tochter sei so normal wie die beiden Jungen auch. Was die Großmutter als Krankheit ansehe, das sei nichts weiter als eine Sache des Temperaments.
Sie betrachtet ihr müdes, stilles Kind und will es ein wenig aufmuntern. „Das kommt alles hier herein“, erklärt sie und hebt einen von Stopfflecken übersäten Damenstrumpf hoch. „Siehst du: Das wird der Bauch und das der Kopf.“ Nein, das Marlenchen zeigt kein Interesse, es vergräbt sein Gesicht in der Bluse der Mutter. „Und Arme und Beine, die machen wir auch aus diesem Stoff, Marlenchen.“ Die Mutter wedelt mit dem Stofffetzen. Das Kind schweigt. Müde reibt es seinen Kopf an der Mutter und wartet ab, was das werden wird. Später holt die Mutter eine Zigarrenkiste, in der sie Garn und Nadeln, Knöpfe und Sicherheitsnadeln aufbewahrt. Sie schneidet Balg und Kopf zurecht und vernäht beides, um es mit den gerupften Fäden zu stopfen, als die Großmutter in die Küche kommt und meldet: „Urschel, geh einmal nach draußen, da sitzt ein Soldat, der dich sprechen will!“
Ursula erstarrt. Sie wird abwechselnd bleich und rot und meint, das Herz würde ihr zum Hals herausspringen. Sie ist kaum zu hören, als sie fragt, und der Name will ihr nicht über die Lippen: „Reinhold?“
Die Mutter schüttelt den Kopf. „Geh, Urschel, geh. Er sitzt wohl schon lange vor der Tür.“
Der fremde Soldat sitzt auf dem großen Mauerbrocken, auf den sie sich auch manchmal setzt, und sieht den Bulldozern zu. Erst als ihr Schatten über ihn fällt, bemerkt er sie und steht auf. „Frau Andreae? Ursula Andreae?“ fragt er.
Ursula nickt. „Ja, die bin ich.“
Der Soldat kann seine Augen nicht von dem reißen, was er in der Straße sieht: die lachenden und rufenden Frauen bei den Besatzungssoldaten; einige winken ihm zu, sind übermütig und kreischen. Der Mann ist verdreckt und unrasiert, und das linke Glas seiner Brille ist zersplittert. Er trägt noch immer seinen Militärmantel und Stiefel. Trotz der Hitze ist sein Mantel zugeknöpft. Plötzlich, als