Die Bärin Roman. Wilhelm Thöring
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„Ihr steht hinter der Tür wie eine Räuberhorde“, sagt Bruno, der versucht, sich aus der Umklammerung der Mutter zu befreien. „Der Hitler hätte euch zwei auf den Feind loslassen sollen!“, lacht er. „Ihr zwei seid geradezu verwegen geworden. Vor euch muss man auf der Hut sein!“
Die Mutter zieht den Sohn in die Wohnung, und jetzt erst entdecken sie die beiden Jungen auf der Treppe, die still zugesehen haben. Erst haben sie sich mit der Großmutter gefreut, aber als die zu weinen anfing, schämten sie sich und wollten gehen.
Ihre Mutter mäkelt: „Was seid ihr nur für Wichte, ihr! Steht hinter dem Onkel Bruno und sagt nichts! Konntet ihr euch nicht denken, dass wir Angst bekommen haben, als es an der Tür klopfte? Wenn der Onkel Bruno ein Fremder gewesen wäre, der unsere Sachen wegtragen wollte! Warum habt ihr nicht gerufen?“ Darüber können die Jungen nur kichern. Sie wissen vor Verlegenheit nicht, was sie machen sollen. Sich gegenseitig stoßend stürmen sie wieder nach draußen.
Mutter und Sohn sitzen am Tisch, und die Mutter hat seine Hände genommen und streichelt sie immerzu, dann hält sie sie fest und sieht ihn an und sagt: „Was du für harte Hände bekommen hast! Hart und rauh. Na, Bruno, jetzt bist du da! Gott sei Dank. Ja, Gott sei Dank!“ Und immer wieder zittert ihr Kinn und füllen sich ihre Augen mit Tränen.
Ursula hat ihm Brote gemacht und Kaffee gekocht, und als Bruno den Malzkaffee riecht, sagt er zur Schwester: „Es ist wie in den Cafés vor dem Krieg. So etwas Feines habe ich schon lange nicht mehr gerochen...“
„Was hast du denn getrunken?“ fragt die Mutter.
„Was wohl? Wasser, egal, wo es sich fand.“
„Ach, du armer Kerl. Einfaches Wasser!“
„Mutter, was wunderst du dich? Hatten wir vielleicht Bohnenkaffee oder Wein?“, fragt die Tochter verständnislos. „Ich habe drüben im Keller wochenlang nichts anderes getrunken als Wasser. Der Muckefuck war für die Kinder. Und gehungert haben wir auch!“
Bruno sieht sie aus den Augenwinkeln an. Die Schwester macht den Eindruck, als trüge sie angestauten Ärger mit sich herum. Sie ist ihm nicht um den Hals gefallen wie die Mutter, sondern hat ihm wie einem Fremden wortlos die Hand gereicht und ist, nachdem sie mit ihren Jungen gezankt hatte, unauffällig verschwunden.
Nachdem sie den Bruder versorgt hat, geht sie mit ihren Strickarbeiten ins Kaninchenzimmer, wo sie ungestört arbeiten kann, wie sie den Bruder wissen lässt, denn der möchte sich wohl zuerst mit der Mutter aussprechen. Für sie beide bliebe noch genügend Zeit, sagt sie, und wenn etwas benötigt würde – sie arbeite nebenan und käme sofort herüber.
Ursula Andreae sitzt untätig am Fenster. Ihre Arbeit liegt im Schoß. Wenn jemand ins Zimmer kommt, dann kann sie sie aufnehmen und Geschäftigkeit vortäuschen.
Jetzt ist der Bruno gekommen, denkt sie, wie lange wird sie noch auf Reinhold warten müssen? Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, dann wird sie den Bruder fragen, was mit den meisten anderen Soldaten passiert ist. Bruno muss etwas über sie wissen, denn er ist selbst Soldat gewesen. Wo sind die Desertierten geblieben? Jene, die nicht in ein Lager geschickt wurden, sondern die man laufen ließ? Und wohin wurden die gebracht, die gefangen genommen wurden? Sind sie noch im Lande? Oder sind sie ins Ausland verschleppt worden? Denn es können nicht Hunderttausende in Gefangenschaft gekommen sein. Leichter ließe sich etwas über Reinhold herausfinden, wenn sie nur wüsste, zu welchen er gehört hat: Zu den Verschleppten, den Desertierten? Wo ist er geblieben? Für die Mutter hat das Warten ein Ende. Aber sie muss weiter die Ungewissheit ertragen. Und das Warten mit dem Bruder an der Seite, ihn hier im Haus, täglich am Tisch zu sehen, das wird schwer für sie sein, das ahnt sie. Ja, sie hat sich gewünscht, dass der Bruder unversehrt heimkehrt, aber an ihn dachte sie anders als an Reinhold. Und wenn sie an Bruno dachte, dann dachte sie in Wahrheit an ihren Mann. Irgendwie kamen in ihrer Vorstellung immer beide gleichzeitig vor: der Bruno für die Mutter, aber Reinhold für sie. Jetzt ist nur der Bruno heimgekehrt.
Der Vater ist gekommen. Sie hört ihn sprechen, leise und unaufgeregt, und ebenso leise antwortet Bruno ihm. Ein wenig lauter fragt er nach ihr: „Wo ist denn die Urschel?“ Die Mutter gibt Antwort. Lange muss sie nicht warten, da steht der Vater bei ihr im Kaninchenzimmer.
„Wird es dir hier nicht schon zu kalt?“, fragt er.
Ursula möchte ihm antworten, aber da ist etwas, das ihr die Kehle zuschnürt, dass sie nicht sprechen kann. Er legt seinen Arm um ihre Schulter, und bei seiner Berührung durchläuft sie ein Zittern, wie beim Schüttelfrost, sie lässt den Kopf nach vorne fallen und weint in ihren Schoß.
Der Vater legt sein Kinn auf ihren Kopf. Sie riecht ihn, er riecht nach Tabak und Kernseife. Früher benutzte er täglich ein Duftwasser, und das hat sie sehr gerne gerochen. Keiner roch wie ihr Vater, der das Vornehme und Edle geradezu ausströmte. Jetzt riecht er wie sie, wie die Kinder und die Mutter und alle anderen – sie riechen nach Kernseife, nach Armut.
„Diese Stunde, Ursula, wird auch für dich kommen“, sagt er. „Bald schon. Die können doch nicht über Jahre die Soldaten festhalten. Das ist viel zu teuer. Ihr Geld ist durch den Krieg aufgebraucht, wie können sie da solche Mäuler füttern?“
Ganz langsam wiegt der Vater sich, und sie muss sich mitwiegen. Lange steht er so bei ihr, bis sein Rücken schmerzt. Er streckt sich und sie hört, wie seine Knochen knacken. Bevor er zu den anderen zurückgeht, tätschelt er ihre Wange und meint: „Urschel, ein wenig Geduld wirst du wohl noch aufbringen müssen. Auch für dich wird es gut werden. Ganz bestimmt. Einer muss ja zuerst kommen. Nun ist es der Bruno...“
Dankbar lächelt Ursula zu ihm auf, ja, das will sie gerne glauben, sie nickt: ja, heute der Bruno, morgen der Reinhold. Nachdem der Vater gegangen ist, bleibt sie noch eine geraume Weile sitzen und beschäftigt sich mit den anzustrickenden Ärmeln. Dann packt sie entschlossen alles zusammen und geht in die Stube, wo die Eltern mit Bruno immer noch um den Tisch sitzen und ihm lauschen, was er vom Kriegsende zu erzählen hat, wie er es erlebte.
Eine Weile hört sie ihm zu, dann ruft sie die Kinder, scheucht sie ins Badezimmer und ist für die nächste Zeit mit ihnen beschäftigt. Als das getan ist, kommt sie wieder an den Tisch. Sie fragt: „Wo wird der Bruno schlafen?“
„Natürlich in meinem Bett“, sagt der Vater.
„Und wo schläfst du?“
„Mit dem Kopf auf dem Tisch. Darin, das weißt du, habe ich Erfahrung“, meint er augenzwinkernd. „Und morgen früh, da gehe ich gleich nach einem fünften Bett auf Tour.“ Er verbessert sich: „Nach dem fünften und dem sechsten. Ich glaube fest daran, dass die Familie bald wieder vollzählig ist! Ja, es wird noch so weit kommen, dass hier so etwas wie ein Hotelbetrieb entsteht“, lacht er. „Na, da kriegt ihr Frauenspersonen noch allerhand zu tun!“
Nun, da die Schwester dazugekommen ist, ist der Bruder wortkarg geworden. Wenn er den Mund aufmacht, dann gibt er Antwort auf eine Frage, die an ihn gestellt wurde, sonst starrt er nur auf die Flecken im Linoleum der Tischplatte. Er wirkt fremd und störend unter den Eltern und der Schwester. Auch die Mutter ist stiller geworden, sie hat wohl alles aus ihrem Sohn herausgefragt; das und die Wiedersehensfreude haben sie müde gemacht. In der Stube ist es dämmerig geworden, fast ist es dunkel. Der Vater zündet die Karbidlampe an und die Mutter füllt Eimer für Eimer den Waschkessel, damit der Sohn sich baden kann. „Erst wirst du den äußeren Dreck abwaschen, Junge.“ Und als das getan ist, beugt sie sich zu ihm und meint: „Du hast wohl mehr als nur Dreck und Staub abzuwaschen.“ Sie geht wieder an den Ofen, um ordentlich Holz nachzulegen.