Bodenfrost. Erhart Eller

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Bodenfrost - Erhart Eller

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er eine halbe Stunde fruchtlos am Schreibtisch verbracht hatte, fand er, es habe keinen Zweck. Ein andermal lief es vielleicht besser. Hoffentlich. Jetzt hieß die Losung: „Hinaus!“ Er sollte Wohnung und Haus verlassen, bevor ihn die Wände erdrückten. Er schaute in seine Börse. Etwas Klimpergeld lag darin. Er konnte einkaufen, wenn auch nur das Allernötigste. Mochte sein, das erbärmliche Hartzgeld für den Mai lag bereits auf seinem Konto. Doch es war ihm eisernes Gesetz, nichts von dem, das für später bestimmt war, in der Gegenwart zu verbrauchen. Woraus folgte, entweder er kaufte etwas zum beißen oder zum trinken; beides zusammen ging nicht.

      Nach innerem Kampf gab er dem Beißbaren den Vorzug und bewies sich damit: „Ich bin kein Süchtling.“ Er zog seine abgetragene Jacke über, trat in die schief getretenen Schuhe, verließ sein Heim, in dem er sich, trotz seiner Mühen, es wohnlich zu gestalten, nicht heimisch fühlte. Sein Grundgefühl hatte er im Gepäck, den stillen Groll über seine missliche Lage. Jedoch war in ihm nun die durch nichts begründete Hoffnung aufgekeimt, dass sich heute, gerade heute, seine Lage erheblich ändern könnte.

      Leichtfüßig strebte Wilfried Schaffer hinweg von seinem Wohnblock, den man, in den Achtziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, aus Betonplatten gefertigt hatte und in dem alleinstehende, vereinzelte, einsame, Menschen wohnten. Er ließ die Bus-Haltestelle hinter sich, ging stadteinwärts, den Hohlweg, „Im Kruge“ benannt, hinab. Auf dem Hang rechts des Wegs befanden sich Kleingärten, links das Gelände eines Kindergartens, anschließend ein Parkplatz, eine Wiese mit Kirschbäumen, Blocks mit Balkonen darüber. Vielstimmiges Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Neidvoll dachte er: „Die haben gut singen, leben fröhlich in den Tag hinein.“ Dann aber sagte er sich; dass die Tierchen nicht aus reiner Freude trällerten. Sie standen in hartem Wettbewerb; nur die besten Sänger wurden zur Paarung zugelassen. Ja im Tierreich sich zu behaupten, war auch nicht leicht. Der nächste Winter kam bestimmt. So manches Vögelchen, das jetzt zwitscherte, würde die kalte Jahreszeit nicht überleben. Ob Wilfried Schaffer den Winter überleben würde, wusste er nicht, doch nicht nur deshalb war ihm nicht nach zwitschern zumute. Er traf die Feststellung, dass den Menschen die Möglichkeit offen stand, sich Vernunft anzueignen, doch viele Menschen nicht das Bedürfnis hatten, sich über das Tierreich zu erheben.

      Links gab es weitere Kleingärten, einige davon verwildert. Er erinnerte sich gut, dass seinerzeit, als es die kleine Republik noch gab, solche Gärten als Juwelen galten. In der Gegenwart, das wusste er, wurden sie angeboten wie Sauerbier und wie dieses meistens vergeblich.

      Er erreichte die Naumburger Straße. Es waren keine lieblichen Gedanken, die seinen Weg begleiteten. Was für ein abstoßendes Bild! Der von den einst schmucken Häuserzeilen übrig gebliebene, graue, von Ruß gedunkelte, lückenhafte Rest, schrie danach, gleichfalls abgerissen zu werden. Ihn stießen die von Abgasen gebeizten Ziegelmauern, mit ihrem löcherigen Kleid von zerbröselndem Putz ab, nicht weniger die hässlichen Fensterhöhlen. Wo noch Scheiben vorhanden waren, starrten sie von Schmutz. Kaum glaublich und doch wahr – hinter einigen der Fenster hausten Menschen. Er sah schäbige Gardinen hängen und die schmuddelige Flagge eines Münchner Fußballclubs – arme Leute als Fans des Klubs der ganz Reichen – das war abartig, fand Wilfried Schaffer. Hatten diese Zeitgenossen denn kein Schamgefühl?

      Abscheulich war ihm die stinkende Lawine des Kraftverkehrs, der die Wände erzittern ließ und die Lungen ätzte. Er traf die bittere Feststellung: „Eine Lebensader ist diese Fernstraße, freilich nicht für die Stadt Weißenfels.“ Bergan, bergab, rollten Unmengen von Gütern, die anderswo den Wohlstand mehren mochten - hier hatte man nur den Dreck, den Gestank. Was für ein Irrsinn – die Stadtbewohner wurden weniger und weniger, doch der Verkehr nahm unablässig zu.

      Immerhin gab es selbst hier Natur, die ihn erfreute. Hinter schadhafter Mauer ragten Linden und Kastanien, deren grünes Gezweig den Fußweg überdachte. Freilich trat Schaffer nicht unter dieses Blätterdach; sondern, als vorsichtiger Mensch, dem die Reinlichkeit viel bedeutete, wechselte er die Straßenseite. Denn im Geäst nisteten Krähen in großer Zahl. Die dunklen Vögel fraßen und verdauten insbesondere zu dieser Jahreszeit ausgiebig; der Fußweg war dick gekalkt. Hinter Mauer und Bäumen konnte er verfallene Backstein-Gebäude ausmachen. Er wusste: Einst hat es hier eine Brauerei gegeben, die, wie alte Leute berichteten, ein schmackhaftes Bier erzeugte, bis die Strategen der Planwirtschaft darauf verfielen, den Getränkequell umzuwidmen; statt brauen nun schustern. Die Schuhfertigung wurde allerdings keine Erfolgsgeschichte und war inzwischen eine so ferne Vergangenheit, dass die jungen Leute nichts davon wussten. Betrübt vermerkte er: „Ringsumher wird Null Komma nichts noch hergestellt, nur Krämerei gibt es in Hülle und Fülle.“ Dass man in der Nähe des Krähenparadieses die mürbe Begrenzungsmauer abgerissen und eine Tankstelle hingestellt hatte, behagte ihm nicht. Und ihm missfiel, dass die Kraftstoffe schon wieder teurer geworden waren. Die Preistreiberei der Ölkonzerne musste ihn zwar nicht jucken. Sein Wägelchen hatte er vor Jahren verkaufen müssen, weil er es nicht mehr unterhalten konnte.

      Hinter der nächsten Bresche befand sich nunmehr eine Kaufhalle, zur Erleichterung Wilfried Schaffers, wie überhaupt der armen Leute der Umgebung, die, gleich ihm nicht motorisiert, Mühe hatten, zu den riesigen Einkaufsflächen am Stadtrand zu gelangen. In dieser Halle wollte er die Kleinigkeit an Lebensmitteln kaufen, die er sich leisten konnte. Er querte die Straße und bekam etwas zu sehen, das er zur Genüge kannte, das ihn gleichwohl eben jetzt sehr ärgerte: Vor der Halle standen zweifelhafte Gestalten beisammen, die sich nicht um das Schild scherten, welches den Alkoholgenuss auf dem Gelände untersagte. Sie standen als eine geklumpte Masse, gossen Flaschenbier in sich, bliesen Zigarettenqualm in die Umgebung, schwatzten lautstark, so, als ob es sich um lauter Schwerhörige handelte.

      Er sollte, meinte er, diese da links links liegen lassen, den Einkauf erledigen, verschwinden. Doch er blieb zögernd stehen. Denn eben jetzt schmerzte ihn die Tatsache ganz besonders, dass der anrüchige Berufsstand der Blatt- und Sendungsmacher ihn und seinesgleichen mit diesen verkommenen Menschen in einen Topf warf. Nahezu einstimmig wurden er und seinesgleichen gleich denen da als Schmarotzer verlästert. Die gut geschmierte Volksverdummungs-Maschine trötete unablässig: „Ihr, die ihr hart arbeitet, sollt mit Fug und Recht das Geschmeiß verachten, das sich faul in der sozialen Hängematte wälzt und alle Fleißigen auslacht. Leicht könnte sich dieses schlaffe Pack am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen (Wer Arbeit ernsthaft sucht, wird sie finden). Doch lieber ergibt sich das Pack dem Trunke und anderen Lastern und lässt sich durchfüttern.“

      Ja, man verdummte die Masse erfolgreich und besonders schlimm war, fand Wilfried Schaffer, dass so manche Schreibtischtäter in den Ämtern, ganz besonders die in der Arge, der für ihn zuständigen Unterdrückungs-Dienststelle, diese Sichtweise blindlings teilten. Das alles erfüllte ihn seit langem mit Groll, riss ihn, den Umgänglichen, jedoch nicht zu Zornes-Ausbruch hin.

      Doch just in dieser Minute, da er unschlüssig stand, ging durch den Langzeit-Arbeitslosen Wilfried Schaffer ein Ruck. Klar erkannte er: übel war seine Lebenslage, übel war die Lage derer da. Er sollte sie nicht verachten, sondern brüderlich sein. Er sollte nicht Duckmäuser, sondern Aufsteher sein. Es war doch, zum Teufel, an der Zeit, die Verhältnisse zu ändern. Die Volksverdummer verunglimpften die gesamte Unterschicht als eine formlose, gärende, zerstörungswillige Masse, die niedergehalten werden müsse, sollte das Abendland nicht untergehen… Schlussfolgerung zog er. Ja, zu zerstören galt es einiges. Allerdings nicht blindwütig, sondern gezielt. Dazu war nötig, fand er, dass sich die Unteren, die Enterbten, die Ausgestoßenen, zu einem mächtigen Marschblock formten. Die Verachtung der Verachteten untereinander, das war ihm nun glasklar, nutzte nur den herrschenden Herrschaften. Die war das Schmiermittel, welches die Höllenmaschine am Laufen hielt…

      So dachte plötzlich der von Wesen friedsame Wilfried Schaffer. Und er warf seine Abneigung seitwärts, wollte jetzt und hier zur Einigkeit den ersten Schritt tun, indem er den Graben, der ihn von denen da trennte, übersprang. Er schritt voran und ihm kam ihm ein kühner Gedanke, der nämlich, dass er mit der Tat, die er vorhatte eine Initialzündung auslösen könne, aus welcher

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