Bodenfrost. Erhart Eller

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Bodenfrost - Erhart Eller

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lange vorher gegeben haben. In früherer Zeit von einiger Bedeutung, da an der wichtigen Handelsstraße Via Regia gelegen. Die gute Verkehrs-Anbindung war in Kriegszeiten ein Unglück, so beim großen Hussitenzug Vierzehnhundertdreißig, dem die Vorstädte zum Opfer fielen; laut einem Nazi-Artikel im Heimatblatt sollen die Juden den Böhmern die Tore geöffnet haben. Dürfte Hetze gewesen sein.“ Und: „Im Zweiten Weltkrieg war hier für ein paar Stunden Kriegsgebiet, April Fünfundvierzig, als der Faschisten-Spuk schon so gut wie vorbei war. Letzte Zuckungen des Lindwurms, sozusagen.“ Weiterhin: „Die Stadt war in Kriegen immer mal wieder Brennpunkt, es gab Schlachten im Umkreis, auch entscheidende, alsda: Hohenmölsen Tausendachtzig, Lützen Sechzehn Zwounddreißig, Rossbach Siebzehn Siebenundfünfzig, Jena, Auerstädt Achtzehn Null Sechs, Großgörschen sowie Leipzig Achtzehn Dreizehn.“ Auch bemerkte er: „Die Weißenfelser hätten auf die geballte Kriegsgeschichte im näheren Umkreis bestimmt gern verzichtet.“ Der Geführte, staunend, lobte: „Sie sind ja ein historisch Beschlagener.“

      Die sogenannte Promenade schritt man entlang, wo sich die Bus-Haltestellen aneinander reihten. Schaffer wusste zu berichten, dass es vor der großen Krise Ende der Zwanzigerjahre des Zwanzigsten Jahrhunderts in der Stadt an hundertdreißig Schuhfabriken gegeben hatte, dass nachher, im sogenannten Realsozialismus, ein riesiges Kombinat mit Tausenden Beschäftigten die städtische Schuhfertigung vereinte, dass aber seit etlichen Jahren hier gar keine Schuhe mehr gefertigt wurden, wie denn überhaupt die Industrie der Stadt fast abgestorben war. Der Geführte, dem letztere Feststellung sichtlich unangenehm war (fühlte er sich mitschuldig?) äußerte: „Der Realsozialismus musste auf dem Schutthaufen der Geschichte landen, zwangsläufig. Gleichwohl hätte man manches vernünftiger regeln können.“

      Diese Äußerung hätte Schaffer unterschreiben können, doch aus diesem Mund gefiel sie ihm nicht. Er ließ sich aber nicht darüber aus, sondern schilderte die Entwicklung der städtischen Bevölkerung. „Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts wohnten hier reichlich zweitausend Menschen, der Dreißigjährige Krieg wirkte immer noch nach, Tiefpunkt war Sechzehn Neununddreißig mit neunhundertsechzig Bewohnern, dann, mit Unterbrechung durch den Siebenjährigen Krieg, stetiger Anstieg, Zehntausender-Marke geknackt Mitte Neunzehntes Jahrhundert, Neunzehn Neunundzwanzig Vierzigtausend, Höchstmarke Neunzehn Sechsundvierzig infolge Zustroms von Ausgebombten und Vertriebenen: über Zweiundfünfzigtausend. Seitdem bevölkerungsmäßig Abwärtsbewegung, Flucht vieler Enttäuschter nach dem Westen, als es die „Mauer“ noch nicht gab. Mitte der Sechziger: Wohnungsbau eingestellt bis Mitte der Achtziger, Wegzug vieler Leute nach der „Chemie-Arbeiter-Stadt“ Ha-Neu, wo Betonblöcke aus dem Boden gestampft wurden.“ Der Geführte warf erstaunt ein: „Wie denn, Leute aus Weißenfels sind nach Vietnam gezogen?“ – Schaffer griente überlegen. „Ha-Neu war die Abkürzung für Halle-Neustadt, genannt Heimstatt der Chemie-Arbeiter, Stadt der Zukunft. Die Wohnungen waren begehrt, trotz der hellhörigen Wände und der öden Umgebung. Fernheizung und so. - Ab Neunundachtzig dann Massenflucht, dort wie hier. Inzwischen hat Weißenfels die Dreißigtausender-Marke nach unten durchbrochen. Um das zu vertuschen, sollen die Dörfer ringsum eingemeindet werden.“ Er äußerte sich über auffällige Gebäude: Das Schloss, auf unsicherem Grund gebaut, deshalb gefährdet von Anfang an, das Haus, in dem der Tonsetzer Heinrich Schütz seine letzten Jahre verbringen wollte, doch sein Herr, der sächsische Kurfürst, scheuchte ihn hoch aus der Altersruhe. Das Geleitshaus, in dem der berühmteste der Könige Schwedens ausgeweidet wurde, das Novalis-Haus, in dem der romantische Dichter sein Ende fand.

      Der Geführte begehrte zu wissen, wie die Stadtmauer verlief. Schaffer erklärte: „Die halbe Strecke haben wir bereits bewältigt. Dann von dieser Promenade links weg zwischen Kaland- und Dammstraße, also ein Stück abseits der Saale, wohl wegen der Überschwemmungs- Gefahr, nachher zwischen Saal- und Friedrichstraße, über die Nikolaistraße, wo nahe der Fußgänger-Ampel das Nikolai-Tor stand, zum Stadtgraben beziehungsweise Stadtpark, womit der Ausgangspunkt wieder erreicht wäre.“ Er merkte noch an: „Dort vorn, bei der Fußgängerbrücke, die es in früheren Zeiten nicht gab, war ein Durchgang in der Mauer, Kuttelpforte genannt. Durch diese Pforte gingen die Fleischer mit ihren Schlacht-Abfällen, Gedärm und so weiter, um das Zeug dann in die Saale zu kippen. Die Umwelt-Verschmutzung hat also eine lange Geschichte.“

      Der Westler sprach: „Ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen. Mich hindern leider dringende Geschäfte, den Rundgang zu vollenden. Ich würde auch ganz gern kreuz und quer durch die Stadt gehen, mit Ihnen als Führer, aber leider… Es hat sich viel verändert.“ „Na“, dachte Schaffer, „wird jetzt kommen: halbe Leistung, halbes Geld?“

      Die Sorge war unberechtigt. Der Mann zahlte prompt den vereinbarten Lohn. Und gab von sich preis: „Plattner ist mein Name. Ich wohne im Hotel Jägerhof.“ Schaffer stellte sich ebenfalls knapp vor. Herr Plattner nannte ihre Bekanntschaft angenehm und erklärte: „Eine ausführliche Führung wäre mir lieb gewesen. Da es sich nicht ergeben hat, schlage ich vor...“ Er stockte, fragte: „Sie haben doch im Schriftlichen Übung oder?“

      Schaffer fragte sich, „hat auch er das Vorurteil, Ostler gleich Analfabet?“ Er antwortete: „Ich habe in der Schule nicht gefehlt, als das Schreiben dran war. Gelegentlich nutze ich diese Fähigkeit.“

      Der Herr Plattner bemerkte den Spott nicht oder ging darüber hinweg. Er verkündete: „Ich schlage vor, dass Sie, in aller Ruhe, ein paar Sachen aufschreiben, was Ihre Stadt betrifft, die einst auch meine gewesen ist. Alles, was Sie für bemerkenswert halten. Ich setze Vertrauen in Sie. Ihre Redeweise sagt mir zu, daraus schließe ich auf Ihre Schreibweise.“

      Schaffer wusste nicht, was er von dem Vorschlag halten sollte. Plattner ergänzte: „Es soll Ihr Schaden nicht sein. Ich dachte, Pi mal Daumen gepeilt – je nach Umfang der Arbeit, ich sag mal, bei hundert Din-A-4-Seiten, etwa...“ Es war keine astronomische Zahl, doch dem armen Schaffer wurde fast schwindlig davon. Plattner meinte dann noch: „Den Dichter Novalis sollten Sie mit ein paar Seiten würdigen. Der kommt wieder in Mode, scheint mir.“ Ferner ließ er durchblicken, dass, wenn der Text es hergäbe, ein Buch gedruckt würde, was dem Verfasser ein zusätzliches Einkommen, dazu eine gewisse Bekanntheit, einbringen würde. „Ich bin nicht ganz ohne Einfluss. – So nun muss ich aber, die Termine….“ Er überreichte dem Stadtführer eine Visitenkarte und wünschte seine Rufnummer zu erfahren. Wilfried Schaffer merkte gallig an, dass er mit einer Visitenkarte leider nicht dienen könne und kritzelte seine Nummer auf ein Stück Papier. Der Westler nickte leutselig. Schaffer argwöhnte, der Mann könnte denken: „Dem Kerl hat man den Anschluss gekappt, wegen nicht bezahlter Rechnungen...“ Wie nun, hatte er Grund, sich zu freuen? War es ein ernst gemeintes Angebot? Ob oder ob nicht, fest stand, es war der unglaubliche Fall eingetreten, dass er am Monatsletzten einen Zwanziger in der Hand hatte, mit eigener Hand verdientes Geld. Er berichtigte sich: „Mit eigenem Mund verdient.“

      Erst als Plattner gegangen war, fiel ihm ein, dass er nichts Schriftliches in der Hand hatte. Also, ihn anrufen, es nachfordern? Es wäre ein Treppenwitz.

      Es war also doch nicht ein Tag wie jeder andere. Einen kleinen Erfolg hatte er errungen. In der schäbigen Kaufhalle hinter den Bushaltestellen, die einst, in den Achtzigern, das Aushängeschild des „sozialistischen Einzelhandels“ gewesen war, holte er, wie geplant, Brot, etwas abgepackte Wurst und ebensolchen Schnittkäse. Und - schließlich durfte er sich nach getaner Arbeit etwas Vergnügen gönnen - eine Flasche Rotwein und zwei Flaschen Bier. Sein Hunger war nicht gering, doch knall und fall fasste er den Vorsatz, an diesem Tag nichts mehr zu essen. Denn er meinte, Fasten kläre die Gedanken. Was die Getränke betraf - warum sollte er denen entsagen, da er sich doch einen tüchtigen Schluck verdient hatte. Freilich, das Trinken konnte, zumal auf leeren Magen, die Gedanken vernebeln, vielleicht aber auch beflügeln, die Einbildungskraft stärken. Diese Art Stärkung dürfte ihm nützlich sein, könnte ihm, ja warum denn nicht, vielleicht doch einen Ausweg aus der Notlage zeigen. Das Angebot des Westlers Plattner konnte keine wirkliche Rettung sein, doch immerhin. Er sollte die Sache gründlich bedenken. Wenn er sich entschlösse, für Plattner zu arbeiten, dann gewissenhaft, wie es seine Art war. Ob er tatsächlich angemessen entlohnt würde?

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