Bodenfrost. Erhart Eller
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Gespenstisches, Walpurgis-gemäß
Wilfried Schaffer leerte eine Bierflasche. Nun war er fest entschlossen, das Wagnis Schreiben für Plattner einzugehen. Also ran! Zwar nicht sofort. Er hatte an diesem Nachmittag nicht Lust, sich an den Schreibtisch in seiner trostarmen Wohnung zu setzen. Vielmehr sollte er den Rest des Tags weiter nach Glück suchen. In seiner Lage eine Gelegenheit, die sich womöglich bot zu versäumen, wäre sträflich…
Unterwegs kamen ihm Gedankensplitter in Sachen Schreiberei ein. Er riss von der Papiertüte, in der das Brot steckte, einen Fetzen, kritzelte darauf Stichpunkte, während er die Leipziger Straße unter die Füße nahm. In Marktnähe gab es einige prächtig aufgefrischte Barockhäuser, weiter draußen herrschte Trostlosigkeit: schmucklose Altbauten, zwischen denen Lücken klafften. Nachher war da nur noch Lücke und weiter gar nichts. Einst ist die Straße von kleinen Häusern dicht gesäumt, sind die Häuser stark bevölkert gewesen. Nun war das Gelände Parkplatz und nichts sonst. Im zweiten Weltkrieg hatte die Stadt zwar ihre Brücken, doch kaum Gebäude eingebüßt. Doch danach hatte sich der Verfall rasch und rascher vollzogen. Abriss war billiger als Instandsetzung. Am Ende der riesigen Brache, dicht an der Saale, gab es ein beliebtes Gasthaus, letzter Rest der einst langen Zeile kleiner Fischer-, Handwerker- und Krämer-Häuser. Das Gasthaus war wie eine Oase in der Wüste.
Da ihm die Ödnis hierorts missfiel, erstieg Schaffer die Anhöhe, die das Saaletal begrenzte, Klemmberg genannt. Er nutzte die Treppe aus zweihundert Stufen, die, vordem ganz verfallen, inzwischen im Rahmen einer „Arbeits-Beschaffungs-Maßnahme“ aufs Feinste erneuert worden war. Obwohl die Menschen, die als Teilnehmer von „Arbeits-Beschaffungs-Maßnahmen“ von den „Besserverdienern“ und auch von vielen Geringverdienern des „ersten Arbeitsmarkts“ herzlich verachtet wurden, hätte Schaffer dabei gern mitgetan, allein - er war nicht „zugangsberechtigt“.
Die zweihundert Stufen strengten den Ermatteten an; oben musste er tief durchatmen. Seinen Hunger nahm er kaum wahr, doch Durst plagte ihn. Während er vom nahen Aussichtspunkt Blicke auf die Dächer der inneren Stadt warf, leerte er die zweite Bierflasche.
Dabei bescheinigte er der Gebäude-Anhäufung namens Weißenfels nochmals, dass diese nicht immer grau und unbedeutend gewesen ist. In der Mitte Mitteldeutschlands gelegen, hatte das Städtchen lange Zeit etwas Geltung besessen. Immerhin war es über Jahrzehnte Residenzstadt eines nachrangigen sächsischen Herzogtums gewesen, hatte zuvor gelegentlich den Hof des sächsischen Kurfürsten beherbergt. Mit der Zeit war die Stadt aus den Nähten geplatzt; im neunzehnten Jahrhundert hatte man die Stadtmauer abgerissen, die Tore geschleift. Der wachsende Verkehr auf den wichtigen Straßen, die durch die Stadt führten, hatte deren Erweiterung erfordert. Industrie war gediehen, Menschen waren in die Stadt gezogen; wildes Bauen hatte die lieblichen Hügel des Umlands überwuchert. Im zweiten Weltkrieg hatte Weißenfels nur wenige Gebäude durch Luft-Angriffe verloren, doch ist die Stadt kurz vor dem Ende noch Kampfplatz gewesen, wusste Schaffer. Da den Soldaten der Wehrmacht längst klar war, das „tausendjährige Reich“ war unrettbar verloren, hielt sich ihr Heldenmut in Grenzen; es gab nur wenig Schießerei, ein paar Häuser fielen in Schutt. Allerdings wurden, wie in den Kriegen der Vergangenheit, die Brücken zerstört. Weil der Verlust an Wohnraum gering war, wurde die Stadt von den Oberen der „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ als Notheimat für Tausende Entwurzelte aus dem verlorenen Osten und den zerstörten Großstädten bestimmt. Nach und nach waren, gemäß den Planvorgaben, am Stadtrand Wohngebiete aus vorgefertigten Bauteilen entstanden, wodurch die Stadt sich immer weiter ins Umland geschoben hatte, während ihr Inneres verwahrloste. Heiß begehrt sind die Wohnungen in den kantigen Blöcken gewesen, wegen der besseren Zufuhr von Licht und Luft im Vergleich mit den alten kleinfenstrigen Häusern. Wenn man Glück hatte, war der Block, in dem man nun wohnte, zentral beheizt. In der Altstadt fielen Baudenkmäler reihenweise der Abrisswut zum Opfer. In den letzten Jahren der kleinen Republik hatte, wegen der beschleunigten Entvölkerung, der Verfall auf die Vorstädte übergegriffen. Dieser hatte sich nach ihrem Untergang noch verstärkt, da die Industrie verschwand. Der Betrachter Schaffer fand, Weißenfels sei eine sterbende Stadt.
Weiter marschierte er, talwärts, stadtauswärts, unterquerte die mächtige Brücke der Umgehungsstraße. Das Dorf Burgwerben am anderen Ufer wirkte gefällig mit den roten und dunkelgrau glänzenden Dächern. Der Lärm der Fahrzeuge auf der Brücke hingegen störte ihn sehr. Als er sich so weit entfernt hatte, dass ihm der Geräusch-Anprall erträglich war, setzte er sich ins Gras, nahm einen großen Schluck aus der Rotweinflasche und schlief ein.
Als Schaffer erwachte, glaubte er zunächst an einen absonderlichen Traum. Er gewahrte lächerlich gekleidete, Grimassen schneidende, Kinder, die ihn umtanzten. Eins hatte eine goldgelbe Pappkrone auf und einen mit Goldbronze überzogenen Stock in der Hand. „Ich bin der König“ krähte es. Ein anderes trug einen mit Silberbronze gefärbten Pappharnisch, von Bindfäden zusammengehalten, dazu einen Helm aus demselben Werkstoff und einen Holzsäbel. Diese beiden Gestalten, als Wirklichkeit erkannt, belustigten ihn. Der Anblick der dritten vertrieb die Lachlust. Dieses Kind ging in einem löcherigen Kittel, wirkte, obschon dicklich, abgehärmt und schaute bekümmert drein. Das Kind mit der Krone blaffte ihn an, „unterwirf dich, Unwürdiger, ich bin der Herr der Welt.“ Schaffer tippte sich an die Stirn, worauf der kleine Frechling das Kind mit dem Pappharnisch aufforderte: „Töte den frechen Untertanen!“ Tatsächlich ging ihn der mickrige Pappkamerad mit seinem Holzsäbel an. Schaffer schlug ihm das Ding aus der Hand, setzte seinen Weg fort, wobei ihm die beiden Kinder lästig waren, denn sie hampelten vor seinen Füßen. Dazu belegten sie ihn mit nicht kindgemäßen Schimpfworten. Mit derben Schubsen räumte er sie zur Seite. Das dritte, zerlumpte, Kind, zeterte: „Das darfst du nicht machen. Man muss der Obrigkeit gehorchen.“ Schaffer, kopfschüttelnd, sagte: „Ihr seid bescheuert, alle drei.“ Er schritt aus, drehte sich nach kurzem um. Tatsächlich, das Gör mit dem Säbel schlug auf das lumpige Balg ein, weil es ohne Genehmigung des Herrschers den Mund aufgetan hatte. Das Gör mit der Krone feuerte es an. Das Lumpenkind wehrte sich nicht. Schaffer drohte: „Wenn ihr ihn nicht in Ruhe lasst, mach ich euch einen Einlauf.“ Er wurde ausgelacht. Der Kronenwicht krähte: „Wir kriegen dich, du Aufrührer. Du bist des Todes.“ Das lumpige Kind schlug dem Fass den Boden aus: „Du darfst dich nicht einmischen. Es sind meine Freunde, die dürfen mich hauen.“
Schaffer stellte fest: „Du bist von euch dreien am meisten beknackt.“ Er hinterließ eine Drohung: „Hört auf mit dem Scheißspiel, sonst geht es euch schlecht“. Er war aber sicher, das würde weitergehen, spätestens, wenn er nicht mehr zu sehen war. Ihm kam der merkwürdige Gedanke, er und das Lumpenbalg hätten eine gewisse Ähnlichkeit. Er wies sich zurecht: „Das ist glatter Unfug“.
Die Hässlichkeit der Darbietung wurde nun durch ein viertes Kind auf die Spitze getrieben. Es war in Schwarz gekleidet. Dieses unkleidsame Kleid wurde durch grellweiße Streifen noch abstoßender. Vor dem Gesicht hatte es eine Totenkopf-Maske. Er fuhr es an: „Wie kann ein ganz junger Mensch sich so verunstalten. Geh mir aus dem Weg, sonst werde ich ungemütlich. Das Kind nahm die Drohung ernst, entfernte sich ein Stück, krächzte aus sicherem Abstand: „Ich bin Gevatter Tod, Herrscher über