Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz
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Die ersten Wochen vergehen, aber Karl wird nicht mitgenommen, und er hätte doch so gern gewusst, ob sie auch alles wieder wegwirft.
Frau Hirschberg nahm Renate am ersten Tag an die Hand und stellte sie der Familie vor. Sie empfahl ihrem Mann und der Tochter, ihr jede Hilfe zu gewähren, denn Fräulein Kirchhoff sei eine Volontärin und kein gewöhnlicher Lehrling. Frau Hirschberg gab Renate ihre warme, feste Hand und wünschte ihr alles Gute. Die Tochter Gloria verzog ebenfalls die Lippen.
Auf die Dauer erwies sich die gesprächige Frau Hirschberg als eine Nervensäge. Sie schwatzte ausdauernd den ganzen Tag belangloses Zeug, und wenn keine Kundschaft da war, ergoss sich ihr Redestrom über die drei Menschen, die ihrem Mundwerk hilflos ausgeliefert waren. Der Umgang mit der Kundschaft stellte sie oft vor unlösbare Aufgaben. Die Kunden kamen ohne genaue Vorstellungen, fanden nicht das Rechte und mussten deshalb zu einer Bestellung veranlasst werden.
„Sehen Sie die den Wandbehang, mein Herr?", fragte Frau Hirschberg dann, „mein Mann hat drei volle Wochen daran gearbeitet. Er ist beinahe daran kaputtgegangen, aber wo finden Sie heute noch ein solches Stück? Niemand kann heute noch so was arbeiten.“
„Sehr schön", sagte der Kunde in solchem Falle, ließ aber selten die Absicht erkennen, dieses „Stück“ zu erwerben. Der Trick war zu plump.
„Ich kann Ihnen noch etwas ganz Feines zeigen. Meine Tochter hat es gemacht. Diese Arbeiten werden sie noch einmal ihr Augenlicht kosten. Ich zeige es auch nur solchen Herrschaften, die etwas davon verstehen.“
Der Kunde nickte zerstreut und sah auf die Uhr. Er hielt sich schon länger als geplant in den Räumen der Firma Hirschberg auf. Um nicht unhöflich zu erscheinen, besah er das Stück, das man nur besonderen Kennern zeigte, eine wirklich sehr schöne Decke aus hauchfeinem Garn. Der Kunde war überrascht und erkundigte sich nach dem Preis, aber die Decke wurde niemals verkauft, sie war der Talisman der Familie. Selbstverständlich konnte Gloria ein ähnliches Stück für den Herrn anfertigen, gegen eine kleine Anzahlung. Hinterher gab es dann immer Krach, denn das Duplikat unterschied sich wesentlich vom Original. Die Kundschaft beschwerte sich, verlangte genau die Decke und keine andere - ohne Erfolg. Die Decke wurde noch immer entschlossen verteidigt. Es war Schwindel, denn weder Gloria noch Herr oder Frau Hirschberg konnten eine derartige Arbeit ausführen.
Nach den vormittäglichen Kundenbesuchen erteilte Frau Hirschberg eine Belehrung, die hauptsächlich für Renate bestimmt war. „Haben Sie gesehen, mein Kind, wie man das Stück drehen muss, das man verkaufen will? Niemand gibt an und für sich gern Geld aus. Das ist bekannt. Der Kunde muss also davon überzeugt werden, dass der Besitz einer solchen Arbeit etwas unerhört Wünschenswertes ist. Der Gedanke daran muss ihn Tag und Nacht verfolgen. Ich erzähle Ihnen das, mein Kind, weil Sie begabt sind. Mit Ihrem Gesicht kann man eigentlich alles verkaufen. Geh nicht so dicht mit den Augen an die Arbeit, Gloria“, unterbrach sie ihre Ansprache an Renate. „Bei dir ist Hopfen und Malz verloren. Du und dein Vater, ihr würdet nicht das Salz zum Brot verdienen. Zum Glück bin ich noch da, denk daran, eine Mutter hat man nur einmal.“
Sie zündete sich einen Stumpen an und fuhr dann fort: „Also, mein Kind, versuchen Sie ihr Glück. Lächeln Sie die Leute an. Das können Sie doch, wenn nicht, müssen Sie es lernen. Bringen Sie mir jetzt, was Sie gemacht haben!“
Renate holte ein Tuch mit Batikmuster, breitete es auf dem Tisch aus und sah Frau Hirschberg erwartungsvoll an.
„Ganz schön, aber ich erkenne die Handschrift meines Alten. Solche Muster hat er schon vor zwanzig Jahren gemacht. Schon damals wollte sie kein Mensch kaufen. Machen Sie das nicht nach. Verstehen Sie, mein Kind, Sie müssen Sachen herstellen, die man verkaufen kann. Ladenhüter haben wir überreichlich. Gloria kann sie Ihnen zeigen. Ich muss jetzt weg.“
Sie verschwand sehr eilig und alle atmeten auf. Gloria ging mit Renate in den kleinen Lagerraum und legte ihr Dutzende von Batiken vor, unverkäufliche Ware. Dann fragte sie: "Gefällt es Ihnen bei uns?“
Renate wollte sie nicht verletzen. „Ich bin doch erst kurze Zeit hier“, sagte sie, „Ihre Mutter ist wohl sehr tüchtig?“
Gloria nickte und Renate sah sie aufmerksam an. Obwohl Gloria erst Mitte zwanzig war, trug sie schon jetzt unverkennbar die Züge der alten Jungfer.
„Glauben Sie, dass mir eine Brille stehen würde?", fragte sie. „Ich bin kurzsichtig und müsste eine Brille haben, aber meine Mutter will es nicht. Sie denkt, ich heirate noch. Das ist Unsinn.“
Sie teilte das so gleichmütig mit, als berichtete sie über eine fremde Person. Ihrer Frage, ob ihr eine Brille stehen würde, entnahm Renate, dass sie sich um ihre Zukunft sorgte.
„Haben Sie mit dem jungen Herrn Laube was angefangen?“, fragte Gloria.
Renate errötete und ärgerte sich darüber. Wegen dieses Laube brauchte sie wahrhaftig nicht rot zu werden.
„Gehen wir wieder nach vorn“, sagte Gloria fast müde.
Von diesem Tage an war Renate auf der Hut. Ursprünglich hatte sie angenommen, in der Tochter ihrer Chefin eine freundliche Ratgeberin, wenn nicht eine Freundin, zu finden. Die Reserviertheit, mit der Gloria ihre Werbung aufgenommen hatte, verstand sie nicht.
Es sollte eine Zeit kommen, wo sie sich nach einer freundlichen Geste in dem Hause Hirschberg sehnte. Nicht, dass die Hirschbergs mit ihr zankten. Sie brauchten zu dringend die paar Mark, die Hermann regelmäßig jeden Monat bezahlte, und hüteten sich, diese Einnahme aufs Spiel zu setzen, aber sie lebten in ständiger Spannung untereinander. Darunter litt Renate, die im Zusammenleben Ruhe und Harmonie suchte.
Dieser Laube, von dem Gloria gesprochen hatte, machte ihr den Hof. Wenigstens konnte man seine ungeschickten Versuche, mit ihr in Kontakt zukommen, so deuten. Laube, Sohn eines Schneidermeisters, mochte Anfang Zwanzig sein. Er wirkte noch jünger und kam fast täglich unter einem Vorwand. Frau Hirschberg behandelte ihn aufmerksam, denn Laube-Vater, sicherte ihnen einen kleinen Verdienst. Sie staffierten Uniformhosen, die er in Konfektion herstellte. Renate mochte den schüchternen Jungen wie einen Kameraden, außerdem liebte sie alles, was ihr Mitgefühl erweckte. Heinz Laube war ein ängstlich gehütetes Muttersöhnchen, etwas verträumt und schwärmerisch.
Einmal lauerte er ihr auf und bat, sie begleiten zu dürfen. Renate erlaubte es nach einem schnellen Blick in die ängstlichen Hundeaugen und in dem Hochgefühl, zum ersten Mal in ihrem Leben etwas erlauben zu dürfen. Er wagte nicht, sie zu berühren, ging nur still mit einem zufriedenen Lächeln neben ihr durch die Straßen. Ihm zuliebe machte Renate einen Umweg durch die Schönhauser Allee. Sie betrachteten die Auslagen in den Geschäften. Ihre Absätze klappten auf dem Pflaster.
„Fräulein Renate“, sagte Heinz Laube, „was machen Sie denn abends immer so?“
„Ich gehe dreimal in der Woche zur Abendschule in die Andreasstraße. Die übrigen Abende habe ich genug zu Hause zu tun.“