Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz

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Die Legenden des Karl Kirchhoff - Helmut H. Schulz

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kann Renate schon beim Geschirrspülen helfen“, bemerkte er, aber das beeindruckte den Opa keineswegs.

      „Du wirst nach und nach alles lernen. Als ich so alt war wie du, bin ich schon mit aufs Feld gegangen. Von früh bis spät habe ich gearbeitet. Na, da hast du es besser.“

      Karl sah ihn an, dankbar, dass er nicht mit aufs Feld musste. Der Opa war sicher gut. Karl rutschte aus seiner Sofaecke und ging zu dem Opa hin. Der Alte schnüffelte den Duft der Unschuld ein. Seltsame Gefühle befielen ihn, über die er selbst erstaunt war, als sich der Kleine auf seine Knie lehnte und ihn starr ansah. Für seine eigenen Kinder hatte er weniger Geduld aufgebracht. Karl zog die Hand aus der Tasche. Er hielt die ganze Zeit einen Gummilutscher umklammert. Nun war er entschlossen, sich davon zu trennen, um diesem riesenhaften Mann einen Gefallen zu tun.

      „Da, nimm ihn“, sagte er und versuchte ihn dem Alten zwischen die Zähne zu schieben. Der wehrte ab, aber in seinem Fleischerherzen entstand ein Gefühlsschaden.

      Er schnaufte gerührt: „Lass nur, mein Kind. Iss ihn man selbst. Opa raucht doch eine Zigarre.“ Und übermannt von soviel Menschlichkeit an einem Vormittag, stieg ihm eine Träne ins Auge.

      „Was weinst du denn“, sagte das Kind, „es ist doch nischt los.“

      Das war der Gassenjargon, die Rinnsteinsprache aus der Inselstraße. Der Opa raffte sich zusammen. Gewiss, es war nichts passiert. Das Kind wollte ihm seinen Gummilutscher schenken, mehr nicht. Große Leute rauchen Zigarren, sie machen sich nichts aus Gummilutschern. Das konnte das Kind aber nicht wissen, und daher blieb es eine gute Tat.

      Er erhob sich und trat mit Karl an der Hand hinaus in die Küche. Die Frauen heulten auf, als sie das ungewohnte Bild sahen. Die Oma, die bisher alles relativ gefasst beobachtet hatte, weinte nun ebenfalls. Die Kellner grinsten verstohlen. Der Alte, mit dem sie nichts weniger als Freundschaft verband, mimte den gutmütigen Großvater - das war zu viel.

      Der Opa sagte feierlich: „Gebt gut auf Karlchen acht. Geh dir alles ansehen, mein Junge. Lasst Ihn tun, was er will.“

      Das war die Einsetzung eines Prinzen. Nun wussten es alle: Dieses Kind war künftig tabu. Auf ihm ruhte das strahlende Auge eines Monarchen.

      Das neue Leben gefiel Karl. Jeden Morgen ging er mit der Mutter in die „Friedliche Einkehr“ und machte sich nützlich, wie der Alte es gesagt hatte. Das war ein neues, spannendes, Spiel. Für Karl war die Gaststätte ein unübersehbares riesiges Warenlager. Er hielt sich stundenlang im Lagerkeller auf, ohne das System ergründen zu können, nach dem die Vorräte geordnet waren. Bald jedoch erledigte er alle Aufträge, die ihm die Frauen gaben, lernte die Biersorten nach dem Flaschenetikett unterscheiden und stellte den Mäusen nach. Der Opa ließ sich von jeder Heldentat berichten, die sein Enkel vollbrachte, knurrte zufrieden über einen Fortschritt des Jungen und war in diesen Augenblicken zugänglich für andere, heikle Fragen. Auf diesen Umstand stellte sich das Personal ein. Schon deshalb mochten sie Karl. Hinzu kam, dass er ein liebenswürdiger Bursche war, der nie boshaft wurde. Und er hätte seine Stellung zu dem Alten wohl ausnutzen können. Er verriet nichts von ihren kleinen Unterschleifen, schnurrte wie eine junge Katze durch das Haus, empfand dankbar, dass sein Magen altes Eisen verdauen konnte, und fiel abends todmüde ins Bett, um traumlos zehn Stunden zu schlafen. Gelegentlich plauderte er mit Onkel Hannemann, der es übrigens ganz natürlich fand, dass ein Kind mit diesen Anlagen den sozialen Aufstieg zeitig begann.

      Sein Hauptgesprächspartner war jedoch Renate. Karl saß in der „Küche“, einem abgeteilten Platz in der Kochstube, und beobachtete sie, deren Augen, grau wie Meerwasser an einem Regentag, über ein Buch hin und her huschten.

      Warum sie wohl immer hier ist, dachte er, ob der Opa keine Sehnsucht nach ihr hat? Gerade eben wollte er sie daraufhin ansprechen, da stellte sie ihm selbst eine Frage.

      „Wie ist denn der Opa eigentlich?“, wollte sie wissen.

      „Ganz gut“, antwortete Karl, nun verblüfft, dass er sein Urteil nicht ausführlich begründen konnte.

      Tags darauf fiel ihm ihre Frage wieder ein, als er mit dem Opa den Nachmittag verbrachte. Der Alte lag auf dem großen, mit Plüsch bespannten Sofa, von dem er behauptete, dass zwei Mann ihre Mühe damit hätten, und lutschte an seiner Zigarre. Es war die Zeit zwischen Mittag und Kaffee, in welcher der Betrieb in der „Friedlichen Einkehr“ immer etwas abflaute. Auf dem Tisch lagen die Abrechnungsbücher, die er soeben geprüft hatte. Karl saß in dem schweren Schreibtischstuhl. Er war sehr stolz, auf diesen Platz durfte sonst niemand, nur er und der Opa. Es war eines der vielen Vorrechte, die er genoss.

      „Bier muss immer laufen“, sagte der Alte nachdenklich. Karl verhielt sich mäuschenstill.

      „Na“, fuhr der Alte wie im Selbstgespräch fort, „es ist, weiß Gott, auch nicht immer so gelaufen. Mein Vater“, erklärte er dem im Zuhören geübten Enkel, „der war nur ein Postbote in Roditz, das ist ein kleines Nest in Schlesien. Da hatten wir nicht immer Leder an den Füßen, sondern Holzpantinen mit Stroheinlage. Im Sommer gingen wir barfuß.“ Er betrachtete seine großen, in Boxcalf steckenden Füße und setzte seine Betrachtungen zufrieden fort: „Ich habe zeitig arbeiten müssen. Mit dreizehn ging ich zu einem Metzger in die Lehre, und es war noch ein Glück, dass ich in Kost und Logis kam.“

      „Was ist denn das, Logis?“, fragte Karl.

      Der Opa dachte einen Augenblick nach. „Das ist, wenn man gleich da wohnt und beköstigt wird, wo man arbeitet. Eigentlich ist es ein Beschiss.“

      Karl sah hinüber. Er konnte das großflächige Gesicht ganz gut sehen. Es musste wohl schwere Arbeit gewesen sein, die dem armen Opa aufgeladen worden war, und er hatte froh darüber sein müssen, dass er in ein Logis kam, obgleich es eigentlich ein Beschiss ist.

      „Ich war aber auch ein Kerl“, sagte der Opa selbstgefällig. „Einssiebzig groß, damals schon ein Kreuz wie ein Bulle. Ich lernte dann auch bald aus, nur verdiente ich nicht mehr, als früher die geizigen Bauern an Trinkgeld gegeben hatten, wenn wir das Schlachtvieh zusammenholten, Pfennige. Drei Mark verdiente ich.“

      Drei Mark ist wohl nicht viel, dachte Karl.

      „Aber man konnte was damit anfangen“, sagte der Opa. „In diesem Jahr muss mein Vater gestorben sein - Mutter kannte ich überhaupt nicht. Sie war lange tot, und wir gingen einmal im Jahr zu ihrem Todestag an ihr Grab, wo der Alte sich immer ausheulte. Seine Sachen passten mir nicht, aber ich konnte das Häuschen verkaufen. Es waren Hypotheken drauf, und ich fiel wieder rein. Ich war damals dumm wie ein Hammel. Ich habe eine Masse Lehrgeld bezahlt.“

      Karl merkte sich auch dieses: Ein Haus mit Hypotheken verkauft man nicht sonst ging es einem so wie dem Opa, der hereingefallen war.

      „Später bin ich nach Berlin gezogen, das muss so um neunzehnhundertneun gewesen sein. Ich konnte ja was, war auch stark und kriegte gleich Arbeit. Die Metzger in der Stadt lernen nichts Richtiges, sie können man eben schlachten. Aber ich konnte auch Vieh taxieren, sogar Hammel, das ist am schwersten, dazu musst du Kopp haben. Schweine dagegen kaufen sich am leichtesten. Die kauft man einfach nach Gewicht. Beim Hammel weißt du nie genau, was hat er nun wirklich an Fleisch und was kannst du rausschlachten, was wiegt das Vlies? Hammel“, sagte der Opa eindringlich, „Hammel kaufen sich am schwersten.“

      Karl verstaute diese wichtige Erkenntnis in seinem Kopf zu dem anderen, dass Bier immer laufen muss, und ein Haus mit einer Hypothek besser nicht verkauft wird.

      „Vierzehn kam der Krieg“, spann der Opa weiter. Er schwieg eine Weile und Karl glaubte schon, nun sei der Faden gerissen, da fuhr der Opa fort: „Bis achtzehn war ich aus dem Schneider,

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