Die Legenden des Karl Kirchhoff. Helmut H. Schulz

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Die Legenden des Karl Kirchhoff - Helmut H. Schulz

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sagte er. Die Eltern rückten gehorsam zusammen.

      „Heute beginnt für Ihre Kinder ein neuer Lebensabschnitt“, sagte der Rektor. „Sie kommen in die Schule, die ihr Leben eine Zeitlang bestimmen wird. Das ist ein Einschnitt, der sich nicht immer leicht vollzieht. Doch wollen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Kinder zu gehorsamen, fleißigen und pflichtbewussten Bürgern zu bilden.“ Er räusperte sich und fuhr dann fort: „Die Zeiten sind schwer. Viele sind arbeitslos, und noch ist kein Ende abzusehen. Diese Republik ist unfähig, eine Wende herbeizuführen, und so sehen wir eine große Nation an seine Feinde verraten, aber Deutschland wird sich auf seine Größe besinnen. Es wird eine grandiose Wiedergeburt erleben. Das Volk Friedrichs des Großen kann nicht untergehen, kann nicht in die Bedeutungslosigkeit sinken, solange noch deutsche Herzen schlagen und deutsche Männer sich um die Auferstehung seiner Helden bemühen. Die werden sich um das nationale Deutschland scharen. Gebe der Allmächtige, dass die Stunde nicht mehr fern ist, wo die alte deutsche Kraft wieder ihren Kopf über Europa erhebt. Die Feinde mögen sich hüten. - Darf ich Ihnen Herrn Löwe vorstellen? Das ist der Lehrer Ihrer Kinder, und ich bitte, sich mit allen Fragen an ihn zu wenden.“

      Mit diesen Worten trat er zurück und überließ dem mageren Lehrer das Feld, der bisher mit einem verbindlichen Lächeln dabeigestanden hatte, ab und zu nickend.

      Die meisten Eltern blickten betreten zu Boden. Herr Löwe, mit blau umränderten, wässrigen Augen und schlecht sitzendem Anzug, verbeugte sich leicht und bat die Eltern, ihm mit den Kindern in das Klassenzimmer zu folgen. Über Treppen und Korridore kamen sie in einen Raum, auf dessen Tür mit Kreide die Zahl 1 geschrieben war. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Karl sah sich um. In diesem Raum würde sich künftig ein Teil seines Lebens abspielen. Was er sah, war nicht ermutigend. An den graugetünchten Wänden hingen Anschauungstafeln. Dort konnte man die Entwicklung eines Gerstenkorns bis zum fertigen Halm betrachten, hier zeigte eine Tafel das Leben unserer Vorfahren bei Lagerfeuer und erlegtem Hirsch. Die ruppigen Bärte hingen ihnen auf die Brust und sie trugen lange Haare wie die Mädchen. Karl blickte gleichgültig darüber hin. Etwas würgte ihn im Halse. Er wünschte sich weg aus diesem elend kalten Raum.

      Löwe setzte die Kinder auf ihre Plätze. Dann bat er die Eltern, die erste Schulstunde draußen abzuwarten. Daraufhin weinten einige Kinder, aber Löwe ging an das Pult, schlug ein Buch auf und brachte daraus das zur Situation passende Märchen vom Wolf zu Gehör, der sie alle fraß, Rotkäppchen und die Großmutter. Die meisten Kinder fingen an, sich für die Geschichte zu interessieren, Karl aber schluckte und schluckte, um den Kloß in der Kehle loszuwerden. So hörte er nur den letzten Satz, der den Sinn dieses ganzen Leidens augenfällig machen sollte: „Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben.“

      Löwe holte die Eltern wieder herein, verlas die Namen der Kinder, die den Finger heben und hier rufen mussten. Danach verkündete er: „Für heute ist die Schule zu Ende. Es war euer erster Schultag. Morgen bitte pünktlich um acht. Den Stundenplan bekommt ihr später.“

      Karl riss erleichtert die Tasche aus seiner Bank und rannte blindlings an der Mutter vorbei durch den Hof und das Tor auf die Straße. Jetzt schien die Sonne – April, April, der weiß nicht, was er will. Dort erwartete er die Mutter, die ein böses Gesicht machte. Sie gingen die paar Schritte bis zur Inselstraße zurück.

      „Du hast dagesessen, wie ein Hase, der mit offenen Augen schläft. Sonst bist du doch nicht auf den Mund gefallen. Weißt du wenigstes, wie dein Lehrer heißt?“

      Karl dachte angestrengt nach. Ohne Zweifel hatte er das Wichtigste verpasst, noch bevor die Schule richtig anfing. Er wusste nicht einmal den Namen seines Lehrers.

      „Dein Lehrer heißt Löwe, sagte die Mutter, zornig über den Sohn, der sich auf einmal so blöd anstellte. „Ab morgen passt du besser auf!“

      Endlich ist der Schleier über dem Geheimnis gelüftet, das Schule heißt; es ist enttäuschend. Stundenlang muss man sitzen, die Hände auf der Pultplatte gefaltet, auf die Wandtafel starren, an der runde Eier und Äpfel Zahlen verdeutlichen sollen, die gar nicht leicht in den Kopf hineingehen. Auf einer schwarzen Schiefertafel muss man mit einem Griffel Buchstaben malen, die der Lehrer Löwe mit Kreide an die große Wandtafel schreibt. Das nennt man Sütterlinschrift, und es ist eine deutsche Schrift: „Auf, ab, auf, und ein Häkchen drauf“, das I, „auf und ab, auf und ab", das ist das U, nein da muss noch ein Bogen rüber. Man sitzt unter den Kindern, die sich alle mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen bemühen. Sie werden nach einem unergründlichen System gelobt oder getadelt. Hier wird nicht die Anstrengung gewertet, sondern das Ergebnis. Und das ist etwas Neues, das gab es noch nicht im Leben des kleinen. Karl.

      Daheim schnitzte er gern Holz, und es sollten Schiffe werden. „So? Das ist ein Schiff?“, fragte der Vater, „da musst du noch einen Stab als Mast hineinstellen. Wie soll denn dieses Schiff segeln können, wenn es keinen Mast hat, an dem man die Segel befestigen könnte?“ Karl setzte den Mast hinein. Nun konnte das Schiff schwimmen, nun konnte es segeln, hinaus in die Welt, die wirklich viel, viel weiter ist als die Inselstraße, die „Friedliche Einkehr“ sogar…

      Anders hier. „Das soll ein A sein? Mangelhaft, sehr schlecht.“ Ja, warum soll es denn kein A sein? Es ist vielleicht nicht ganz so gerade wie das an der Tafel, aber es ist unverkennbar ein A.

      Und dann kommt der Tag, an dem diese Welt, diese heile und ganze Welt, durch einen schmerzhaften Streich in zwei Teile geschlagen wird, als Strafe für das Vergehen, auf dem Schulhof Kastanien gesammelt zu haben. Der magere Lehrer Löwe schlägt mit einem Rohrstock über die Innenflächen der Hände, das gibt einen scharfen Schmerz, der sich sofort bis in das Herz ausbreitet.

      In Karl ist ein großes Staunen, das weit über den körperlichen Schmerz steht: Die Schule hat offenbart, was sie wirklich ist. Karl ist zum ersten Mal in seinem Leben geschlagen worden, mit der deutlichen Absicht, ihm einen großen und schlimmen Schmerz zuzufügen. Seine Handflächen schwellen an. Er geht zurück auf seinen Platz.

      „Merkt es euch endlich“, sagt der Lehrer, „Kastanien sammeln ist verboten.“

      Ja, es ist verboten, aber die reifen braunen Früchte liegen auf dem Boden, jeder kann sie aufnehmen, sie gehören keinem. Es schadet auch nichts, wenn man sie aufnimmt. Nun erst steigen Karl Tränen in die Augen. Er steht auf, besinnt sich auf seine Tasche, holt sie und verschwindet durch die Tür. Er ist schon an der Treppe, als er Schritte hinter sich hört. Es ist der Lehrer, der magische Lehrer, der über die Hände schlägt.

      „Sofort gehst du in die Klasse zurück“, befiehlt er. Karl bleibt störrisch stehen. Davon kann keine Rede sein, nie mehr wird er in die Klasse gehen, nie. Angesichts dieses Trotzes verliert der Lehrer jede Selbstbeherrschung. Er ohrfeigt Karl, treibt ihn vor sich her in die Klasse, bis … Karl einen Ausweg findet, ihm entwischt, zur Treppe läuft. Er ist schneller, die Angst vor diesem Lehrer gibt ihm Flügel. Er ist auf der Straße und bleibt erst stehen, als er keine Schritte mehr hinter sich hört. Die Schultasche hält er krampfhaft fest. Er weiß nicht wohin, er möchte sich gern klar werden über das Geschehene, aber sein Herz jagt in kurzen Stößen. Der Schule ist er entronnen, aber man muss doch zur Schule gehen. Dort lernt man etwas!

      Was nun? In die Inselstraße. Er will nach Hause. Die Schulmappe auf dem Buckel wird beim Treppensteigen immer schwerer.

      Der Vater raucht seine Schwarz-Weiß, er ist ruhig wie immer, hält ein Buch in der Hand, und Karl bedauert fast, dass er sich entschlossen hat, nicht mehr in die Schule zu gehen. Sie hätten zusammen die Bücher lesen können, die der Vater besitzt. Der merkt sofort, dass etwas nicht in 0rdnung ist. Er bringt es leicht aus Karl heraus, eine zusammenhängende Erzählung, bei der Karl weint, was doch verboten ist, weil Jungen nicht heulen dürfen. Nun ist er leer und müde. Was soll werden? Der Vater geht ohne ein Wort an den Schrank, zieht sich seinen guten Anzug an, knüpft die Schuhe zu, und sie gehen hinunter

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