Der Brief der Königin. Manfred Rehor

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Der Brief der Königin - Manfred Rehor

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hatte.

      So vornehm und doch Gauner, dachte Benjamin; denen Grabow wiederum morgen für wenig Geld alles abluchsen würde, was sie hatten.

      Nachdem er das Zelt in Ordnung gebracht hatte, ging er mit der Kassenschatulle unter dem Arm in den abgesperrten Bereich hinter dem Rummelplatz. Das Kleingeld in der Schatulle deckte kaum den Lebensunterhalt und die laufenden Kosten für einen Tag. Doch Benjamin liebte die Nachmittagsvorstellungen, bei denen er alleine vor Kindern auftreten konnte. Ohne Grabow im Nacken machte alles viel mehr Spaß.

      Er gelangte auf den Abstellplatz, wo die bunt lackierten Wohnwagen nebeneinanderstanden. Pferde wieherten, Schaustellerkinder spielten Fangen, der Geruch von aufgewärmtem Essen wehte herüber. Diese Wagen und der Stall für die Zugpferde waren Benjamins Zuhause – egal, in welcher Stadt er sich gerade befand. Ob Hannover oder Hamburg, Leipzig oder Berlin: Jahrmarkt war Jahrmarkt.

      Zurückhaltend grüßte er Breitmann, den Wurfbudenbesitzer, der in Geld schwamm und immer noch mehr haben wollte. Mamschka winkte Benjamin im Vorbeigehen zu. Sie war eine der wenigen eigenständigen Frauen im Schaustellergewerbe. Mamschka sah schlecht aus, letzte Nacht hatte sie sich ein blaues Auge eingefangen. Sie trank zu viel und oft mit den falschen Leuten. Zum Beispiel mit Grabow.

      Sein Ziehvater war noch nicht im Wohnwagen. Benjamin nutzte die Zeit, um im Spiegel seine Verkleidung zu prüfen. Die abgewetzte Hose, auf die Federn und Fellstücke aufgenäht waren, sah noch ganz gut aus. Das mit Tiermotiven bedruckte, ärmellose Hemd dagegen wurde fadenscheinig. Aber das war kein Problem, von einem Wilden erwarteten die Zuschauer, dass er mit zivilisierter Kleidung nicht zurechtkam.

      Im Gegensatz zu anderen Darstellern von Afrikanern, denen Benjamin auf Rummelplätzen begegnet war, brauchte er seine Haut mit Schminke nur ein wenig dunkler zu färben. Sie hatte von Natur einen hellbraunen Ton, ein Erbe seiner Mutter, die bei seiner Geburt gestorben war. Benjamin stellte sie sich als afrikanische Häuptlingstochter vor, wunderschön und reich und liebevoll. Er dachte oft an sie, wenn er sich beim Schminken im Spiegel sah. Seine breite Nase und die krausen Haare hatte er ebenfalls von ihr, die blauen Augen dagegen von seinem unbekannten deutschen Vater.

      Da Benjamin nicht wollte, dass man ihm seine fünfzehn Jahre anmerkte, schminkte er sich außerdem vor den Vorstellungen einen Bartschatten ins Gesicht. Die Bilder von echten Afrikanern, die er in illustrierten Blättern und auf Plakaten gesehen hatte, zeigten zwar nie einen mit Bart, trotzdem war Grabow mit dieser Zutat einverstanden.

      „Es muss nicht echt sein, es muss echt wirken“, sagte Grabow immer. „Du musst nicht aussehen wie ein junger afrikanischer Häuptling, sondern so, wie sich das verehrte Publikum einen vorstellt. Verstanden, Dummkopf?“

      Grabow war heute mürrischer als sonst gewesen und schon mittags ausgegangen. An solchen Tagen kehrte er meist mit noch schlechterer Laune zurück. Benjamin war daran gewöhnt, deshalb erschrak er nicht, als er hörte, wie Grabows Stimme in der Ferne ein unanständiges Lied grölte.

      Andere Stimmen fielen in den Gesang ein. Der Chor der Betrunkenen näherte sich dem Wohnwagen. Benjamin öffnete die Tür, obwohl er ahnte, was kommen würde.

      Grabow stand mit einigen Kumpanen vor dem Wagen. Sein Anzug war schmutzig, die Jacke eingerissen. Er hatte sich wieder einmal geprügelt – und sicherlich gewonnen. Er überragte nicht nur die meisten Menschen um einen Kopf, sondern hatte auch Muskeln wie Stahlstränge.

      „Merkt es euch: Niemand besiegt Friedrich Grabow!“, prahlte er gerade. „Benjamin, zu mir!“ Er zeigte auf Benjamin und sagte zu seinen Begleitern: „Das ist er, der afrikanische Häuptlingssohn.“

      Benjamin musterte die Männer und versuchte, sie einzuschätzen. Es waren grobschlächtige Kerle, von denen einige Uniformjacken trugen. Vielleicht Soldaten, die sich ein paar schöne Tage in der Stadt machten.

      „Tatsächlich, ein echter Neger! Lass ihn tanzen!“, schrie einer von ihnen, und die anderen stimmten ein: „Wir wollen ihn tanzen sehen!“

      Grabow schubste Benjamin in Richtung Zelt. „Die Abendvorstellung fällt heute aus. Es gibt eine Sondervorstellung für meine Freunde“, sagte er. „Ich schulde ihnen Geld, also gib dein Bestes, du nichtsnutziger Affe. Tanz für uns!“

      Zu Benjamins Abendvorführungen gehörte ein afrikanischer Kriegstanz, zu dem Grabow die Trommel schlug. Der Tanz bestand aus grotesken Sprüngen und sinnlos hervor gestoßenen Schreien, ähnlich wie in der Kindervorstellung, aber wilder.

      Im Zelt nahm Grabow die Pose des Afrikaforschers ein, die er auch im Alltag pflegte. Benjamin zuckte zusammen, als Grabow die Peitsche aus dem Gürtel zog und ein paarmal damit knallte. Das gehörte nicht zum normalen Programm. Zum Glück klemmte Grabow sich die Peitsche anschließend unter den Arm und griff nach der Trommel.

      Benjamin begann mit der Vorführung. Normalerweise kam der Tanz erst am Ende eines Programms. Er dauerte nicht lange und sollte das Publikum dazu verführen, dem Artisten noch ein paar Geldstücke zuzuwerfen. Benjamin tanzte zu Grabows unrhythmischen Trommelschlägen. Die Soldaten klatschten und schrien durcheinander.

      Ein weiterer Soldat kam ins Zelt. Er brachte mehrere Schnapsflaschen, die er verteilte. Da Grabow keine Hand freihatte, hielt ihm der Mann eine Flasche an den Mund. Grabow trank gierig den Schnaps, während er weiter trommelte.

      „Schneller, schneller“, brüllten die Soldaten.

      Benjamin griff nach dem verzierten Speer und dem mit Fellen bespannten Schild. Noch wilder führte er den Kriegstanz fort. Als er erschöpft aufhören wollte, weil er nicht mehr konnte, trieb ihn ein Blick in Grabows grimmiges Gesicht zum Weitermachen. Immer lauter grölten die Männer.

      Irgendwann wurde Benjamin schwindelig vor Atemnot. Keuchend hielt er inne.

      Grabow warf die Trommel beiseite und schlug mit der Peitsche nach ihm. „Weiter, Affe!“

      Erschrocken wich Benjamin aus. Grabow stolperte, fluchte und wurde noch wütender. Nun feuerten die Soldaten den betrunkenen Grabow an, der mit der Peitsche versuchte, Benjamin zu treffen. Die Peitsche war eine Waffe, mit der Benjamin schon mehrmals Bekanntschaft gemacht hatte. Seit er als fünfjähriges Kind damit fast tot geprügelt worden war, hatte er enorme Angst vor ihr.

      Benjamin tanzte wie zufällig zum hinteren Teil des Zeltes. Dort gab es einen Durchschlupf. Aber einer der Soldaten durchschaute seine Absicht und schnitt ihm den Weg ab. Benjamin wich aus und geriet so in die Reichweite der Peitsche. Sie traf und schnitt eine Furche in seinen Rücken. Die Männer johlten begeistert.

      Panisch suchte Benjamin nach einer Fluchtmöglichkeit. Er wich einem weiteren Peitschenhieb aus und schlug mit seinem Speer nach dem Mann, der vor ihm stand. Der Mann war so betrunken, dass er einfach umfiel. Der Weg zum Hinterausgang des Zelts war frei.

      Die Stimmung der Soldaten schlug um. Sie grölten nicht mehr vor Schadenfreude, sondern vor Wut. „Bringt dieses tollwütige Tier um!“, brüllte einer. Sie wollten hinter Benjamin herrennen, behinderten sich aber gegenseitig. Ein Peitschenhieb Grabows traf in dem Durcheinander nicht Benjamin, sondern einen der Männer, noch dazu mitten ins Gesicht. Der Mann schrie auf und taumelte zurück. Blindlings rammte er dem Nächststehenden die Faust in die Magengrube. Eine Prügelei jeder gegen jeden begann.

      In dem Durcheinander gelang es Benjamin, das Zelt zu verlassen. Zitternd vor Angst und Schmerzen suchte er sich eine Deckung und beobachtete durch einen Schlitz in der Zeltplane, was weiter geschah. Noch nie hatte er einen Menschen niedergeschlagen. Er musste unbedingt wissen, wie Grabow darauf reagierte.

      Grabows Stärke und die Macht

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