Der Brief der Königin. Manfred Rehor

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Der Brief der Königin - Manfred Rehor

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Peitsche schwang, wagten es die Männer nicht mehr, sich mit ihm anzulegen. Sie verzogen sich stolpernd zwischen die Rummelplatzbesucher.

      Nun machte sich Grabow auf die Suche nach Benjamin. „Wo bist du, Ratte? Ich ziehe dir die Haut in Streifen ab!“ Er knallte mit der Peitsche in die Luft.

      Benjamin blieb in Deckung und rührte sich nicht. Er sah zu, wie sein Ziehvater eine der herumkullernden Schnapsflaschen aufhob, halb leer trank und zum Wohnwagen torkelte. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

      Der Fluchtplan

      Als Benjamin wieder zu sich kam, dauerte es eine Weile, bis er wusste, was geschehen war und warum er zwischen den Zeltplanen im Dreck lag. Es war spät geworden, auf dem Rummelplatz herrschte Ruhe. Vorsichtig tastete er seinen Rücken ab. Er spürte das klebrige Blut, das sein Hemd durchtränkte. Die Wunde schmerzte höllisch. So schlimm hatte ihn sein Ziehvater schon lange nicht mehr erwischt. Wer konnte ihm jetzt helfen? Ein Arzt kam nicht in Frage. Breitmann, der Besitzer der Wurfbude, fungierte als Sanitäter auf dem Rummel, verlangte aber Geld für seine Dienste. Blieb also nur Rosalinde. Benjamin wollte aufstehen, da legte sich von hinten schwer eine Hand auf seine Schulter.

      Benjamin warf sich herum und versuchte, seinem Angreifer zu entkommen. Doch als er erkannte, wer es war, gab er den Versuch auf. Vor Herkules brauchte er sich nicht zu fürchten. Der ‚stärkste Mann der Welt‘ war gutmütig und so etwas wie sein Freund.

      „Hab dich gesucht“, sagte Herkules. Er ließ Benjamin los und hielt die Hand hoch, um sie im Mondlicht anzusehen. „Blut“, sagte er. „Grabow?“

      „Ja. Mit der Peitsche.“

      „Ich bringe ihn um“, drohte Herkules und machte kehrt, um seinen Vorsatz sofort in die Tat umzusetzen.

      „Halt, warte!“ Benjamin wusste, dass Herkules nicht zur Gewalttätigkeit neigte. Aber man konnte nie richtig abschätzen, was in seinem langsam arbeitenden Verstand vor sich ging. „So schlimm ist es auch wieder nicht. Warum hast du mich gesucht?“

      „Rosalinde schickt mich. Hier.“ Herkules gab Benjamin ein zerknittertes Blatt Papier.

      Es standen nur wenige Worte darauf: „Es geht um deinen Vater. Komm zu mir herüber.“ Darunter war groß und mit vielen Schnörkeln der Buchstabe ‚R‘ gemalt.

      „Mein Vater!“, sagte Benjamin und ließ das Papier vor Überraschung beinahe fallen. Hatte Rosalinde etwas über seinen toten Vater in Erfahrung bringen können?

      „Grabow!”, folgerte Herkules. „Ich bringe ihn um.“

      „Nein, es ist alles gut. Danke für deine Hilfe. Ich gehe jetzt zu Rosalinde und du gehst schlafen. Gute Nacht.“

      „Gute Nacht“, brummte der Riese und tappte davon.

      Benjamin sprintete los zu dem in Pastellfarben bemalten Wohnwagen, in dem Rosalinde und ihre Mamschka lebten. „Was ist mit meinem Vater?“, rief er atemlos, als er die Tür des Wohnwagens aufstieß.

      „Wie siehst du denn aus?“, begrüßte ihn Rosalinde. „Dreh dich mal um. Du blutest ja!“ Rosalinde rührte sich nicht aus ihrem Sessel, sie deutete nur auf einen Lappen und einen Krug mit frischem Wasser auf der Kommode.

      Benjamin feuchtete den Lappen an und drückte ihn Rosalinde in die Hand. Dann zog er die Reste seines Hemds aus, bückte er sich vor ihr und ließ sich das Blut vom Rücken abwaschen.

      Rosalinde keuchte, während sie vorsichtig über die zerschundene Haut fuhr. Selbst diese Anstrengung war ihr schon fast zu viel.

      „Warum bist du heute nicht in der Abendvorstellung?“, fragte Benjamin, um sich von den Schmerzen abzulenken.

      „Es geht mir nicht gut.“

      Das sagte Benjamin genug. Rosalinde war erst vierzehn, wog aber schon mehr als vier Zentner. Ihr Körper kam mit dem Gewicht nicht mehr zurecht. An manchen Tagen musste Mamschka draußen im Zelt auf sie verzichten. Aber es arbeiteten noch zwei nicht ganz so dicke Mädchen für Mamschka. Die genügten, um Zuschauer anzulocken, auch wenn ‚das Kolossalkind Rosalinde‘ als Star der Vorführung fehlte.

      Rosalinde legte den Lappen beiseite. „Wie ist das passiert?“, wollte sie wissen.

      „Grabow hatte einen Wutanfall. Was ist mit dir?“

      „Ich bin wieder ohnmächtig geworden.“ Rosalinde lief trotz des kühlen Wetters der Schweiß herunter. Der ganze Wohnwagen war erfüllt von dem Schweißgestank und dem süßlichen Bouquet des billigen Parfums, mit dem sie versuchte, ihren Körpergeruch zu überdecken.

      „Wenn du nicht abnimmst, wirst du sterben“, mahnte Benjamin. „Du weißt, was die Ärzte sagen.“

      „Ich darf nicht abnehmen. Wenn die Leute keinen Eintritt mehr bezahlen, um mich zu sehen, setzt mich Mamschka aus. Sie hat erst gestern wieder damit gedroht. Wir sind eh fast pleite.“

      „Vielleicht kannst du ein ganz normales Leben führen, wenn du dünn wirst“, munterte Benjamin sie auf. Er hatte das schon Dutzende Male gesagt und wusste, dass es unsinnig war. Rosalinde war auf Gedeih und Verderb an Mamschka gebunden, so wie er an Grabow. Aber er konnte die Hoffnungslosigkeit in Rosalindes Augen nicht verkraften, wenn von ihrem Aussehen die Rede war.

      „Ich habe einmal abgenommen, als Kind, weil ich krank war“, erzählte Rosalinde die alte Geschichte wieder, die ihr selbst als Rechtfertigung für ihr Dulden diente. „Ich sah aus wie ein Monster. Die Hautfalten hingen wie Säcke an mir herunter. Jetzt finden die Leute mich wenigstens niedlich, weil ich in den Rüschenkleidern wie ein Riesenbaby wirke.“

      „Noch“, sagte Benjamin und bereute es gleich wieder.

      „Du brauchst nicht so zu reden! Im Gegensatz zu mir könntest du wirklich weggehen. Und sag jetzt nicht, du hättest keine Chance im Leben, weil du ein Afrikaner bist. Du bist ein Mischling. Deine Haut ist so hell, dass du nur zu behaupten brauchst, du seiest ein Italiener aus dem Süden, und jeder würde dir glauben.“ Rosalinde blickte auf Benjamin herunter, der vor ihr auf dem Boden saß.

      Benjamin wechselte schnell das Thema. „Was ist mit meinem Vater?“, fragte er.

      „Gestern hat Grabow im Suff Mamschka verprügelt.“

      Das interessierte Benjamin nicht sonderlich. Die Schmerzen auf seinem Rücken wurden stärker und machten ihn fast verrückt. Er riss sich zusammen und sagte: „Ich habe sie vorhin gesehen. Sie hat ein blaues Auge.“

      „Und jede Menge blauer Flecken. Sie war betrunken und hat die halbe Nacht auf Grabow geschimpft.“ Rosalinde keuchte ein paarmal, bevor sie weiterreden konnte. Ein triumphierendes Blitzen ihrer Augen kündigte den nächsten Satz an: „Sie sagte, es sei schlimm, wie er alles Geld versäuft und verspielt, das er von deinem Vater bekommt.“

      „Der ist tot!“

      „Mamschka muss es besser wissen“, widersprach Rosalinde. „Sie hat ganz früher mal mit Grabow zusammengelebt.“

      Das war ein Argument. Mamschka kannte Grabow schon, als Benjamin noch gar nicht geboren war. „Wenn das stimmt, haben es mir beide immer verheimlicht. Warum sollten sie das tun?“

      „Grabow, weil er das Geld deines Vaters vertrinkt, und

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