Der Brief der Königin. Manfred Rehor

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Der Brief der Königin - Manfred Rehor

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unter seiner Jacke, die er dort einfach hingeworfen hatte. Er bückte sich, um sie aufzuheben.

      Angst und Wut kochten in Benjamin hoch, als er die Waffe sah. Mit aller Kraft schlug er mit der Flasche auf Grabows Hinterkopf. Da Grabow nur zuckte und nicht zusammenbrach, schlug er noch ein zweites Mal zu. So hart, dass die Flasche zerbrach.

      Grabow bäumte sich auf, riss ein Regal herunter, dann sackte er auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Blut rann aus der Platzwunde auf seinem kahlen Schädel.

      Schnell kniete sich Benjamin neben ihn und drehte ihn herum. Grabow war nicht tot, er atmete schwach. Er lag zwischen einigen Gegenständen, die er mit dem Regal heruntergerissen hatte. Darunter war Benjamins Holzpferd, das zerbrochen war.

      Benjamin traute der Stille nicht. Er stieß seinen Ziehvater in die Seite, bereit, sich mit einem Sprung in Sicherheit zu bringen, falls der sich nur verstellte. Aber Grabow rührte sich nicht. Benjamin zog ihm vorsichtig die Kette mit dem Schlüssel über den Kopf.

      Immer Grabow im Blick behaltend, öffnete Benjamin die Kassette. Briefe und Bankbelege lagen darin, dazwischen die Schmuckstücke, die von den beiden Dienstboten stammten. Außerdem das überzählige Geld, das Grabow sich von Breitmann geliehen und noch nicht zurückgegeben hatte. Den Schmuck ließ Benjamin liegen, aber er nahm das Geld. Als Bezahlung für die Arbeit der letzten Jahre, beruhigte er sein Gewissen.

      Die Bankbelege wiesen eine erhebliche Summe aus, die halbjährlich an Grabow ausgezahlt wurde. Jetzt wusste Benjamin, woher sein Ziehvater das Geld hatte, das er so freigiebig verspielte und vertrank. Die Briefe überflog er nur. Sie sagten ihm nichts, bis auf einen. Er war von 1878 und kurz. Ein Absatz war angestrichen: „Bringen Sie den Jungen in ein Internat, am besten in der Schweiz. Die Kosten werde ich übernehmen.“ Daneben stand in Grabows krakeliger Schrift: „Quatsch!“

      Dieser Brief war in leserlicher, schwungvoller Schrift mit „Wilhelm Riehmann“ unterzeichnet. Oben rechts stand als Absender: „Villa Riehmann, Berlin-Steglitz“.

      Wilhelm Riehmann. Benjamin hatte den Namen noch nie gehört. War das sein angeblich toter Vater? Sehr wahrscheinlich, warum sollte dieser Mann sonst für angebliche Internatskosten aufkommen. Oder ging es gar nicht um ihn? Benjamin zweifelte, aber ein Blick auf Grabow genügte. Für Zweifel hatte er jetzt keine Zeit. Er musste handeln, bevor sein Ziehvater wieder zu sich kam.

      Er steckte die Papiere ein und nahm noch ein paar der Bankbelege als Beweis für die Zahlungen mit. Dann schloss er die Kassette ab und hängte die Kette mit dem Schlüssel Grabow wieder um den Hals. Grabow würde ihm das nie verzeihen; weder den Schlag mit der Flasche, noch das Öffnen der Kassette. Ab jetzt gab es für Benjamin kein Zurück mehr.

      Er nahm sein Bündel und verließ den Wohnwagen. Es war zwei Uhr morgens, als er sich von dem Gelände des Jahrmarkts schlich. In einer so verschlafenen Stadt wie Hannover war zu dieser Zeit niemand unterwegs. Trotzdem versicherte sich Benjamin zunächst, dass alles ruhig war. Dann erst schlüpfte er durch ein Loch im Zaun hinaus auf den Gehweg. Er war frei von Grabow, frei von den Zwängen des Rummels!

      Aber nur für einen Augenblick.

      Benjamin fühlte sich von kräftigen Händen gepackt, herumgewirbelt und zu Boden geworfen. Jemand kniete sich auf ihn und hielt ihm den Mund zu. Er war nicht in der Lage, sich zu wehren, so überraschend war der Angriff erfolgt.

      „Wer bist du, was machst du hier mitten in der Nacht?“, zischte eine Männerstimme mit starkem Akzent in sein Ohr. Es klang nicht aggressiv, eher amüsiert.

      Benjamins panische Angst legte sich: Das war nicht Grabow! Er brummte durch die Hand vor seinem Mund, die daraufhin weggenommen wurde. „Ich heiße Benjamin“, sagte er, nachdem er tief Luft geholt hatte. „Benjamin Riehmann.“ Das kam ganz selbstverständlich über seine Lippen.

      Der Mann hob ihn hoch wie eine Puppe und stellte ihn auf die Beine. Sein Blick fiel auf das Bündel, das Benjamin bei sich trug. „Du willst abhauen, wie?“

      „Ja. Ich habe genug vom Rummel.“

      „Gut, gut. Alle Jungs hauen irgendwann mal ab. Die meisten kehren bald wieder nach Hause zurück. Nur die Starken suchen sich ihren eigenen Weg durch die Welt. Die Starken und die Dummen. Du musst vorsichtiger sein. Die Nacht ist gefährlich.“

      „Jetzt weiß ich es“, sagte Benjamin. Im trüben Mondlicht sah er nun das Gesicht seines Gegenübers: Es war der Türke, der vor zwei Tagen die Kindervorstellung gestört hatte! Der Mann trug heute elegante, europäische Kleidung, aber der große Schnurrbart war unverkennbar. Zwar war der Türke kleiner als Benjamin und schmal gebaut. Aber Benjamin hatte auf dem Rummel gelernt, den Äußerlichkeiten weniger zu trauen als den Tatsachen. Er stand hier einem erfahrenen Ringer gegenüber, gegen den er chancenlos war.

      „Du kennst dich also auf dem Rummel aus“, fuhr der Mann fort. „Sehr gut. Wir machen ein Geschäft: Du erzählst mir etwas über einen Budenbesitzer mit Namen Grabow und ich lasse dich laufen.“

      „Grabow?“ Benjamins Gedanken rasten. Wer mitten in der Nacht etwas von seinem Ziehvater wollte, war entweder ein Gläubiger oder noch Schlimmeres.

      Der Mann nahm Benjamins Bündel und schüttelte es. „Grabow handelt mit gestohlenen Sachen, hat man mir berichtet. Du hast nicht zufällig auch welche bei dir? Hört sich nicht so an. Also: Wo finde ich Grabow?“

      Benjamin schwankte für einen Moment zwischen der Versuchung, den bewusstlosen Grabow dem Fremden auszuliefern, und dem Gefühl, es sei nicht anständig, einen am Boden liegenden Gegner zu verraten. „Grabow wohnt in einem der Wohnwagen hinten links, wenn Sie auf das Gelände kommen“, log er und beschrieb den Weg, damit der Mann ihn im Dunkeln finden konnte. „Sie können einfach reingehen, es ist immer offen. Was wollen Sie denn von ihm?“

      „Er hat etwas, das ich brauche. Aber das geht dich nichts an. Verschwinde.“

      Benjamin schnappte sein Bündel und rannte die Straße hinunter. Erst an der nächsten Ecke blieb er stehen und sah sich um. Der Mann war weg. Vielleicht war ihm etwas gestohlen worden und Grabow hatte den Hehler für die Ware gemacht. Oder es ging um den Schmuck des Dienerpaares. Konnte es sein, dass die bestohlene Prinzessin bereits jemanden beauftragt hatte, die Hehler in der Stadt zu überprüfen? Oder ging es gar um den Brief der englischen Königin? Aber ein Muselman war der letzte Mensch, der sich um ein Schriftstück aus England kümmern würde. Vermutlich waren es wieder einmal Grabows Spielschulden, die ihm Ärger einbrachten.

      Nun, der Türke würde nicht bekommen, was er suchte. Der Wohnwagen, den Benjamin ihm beschrieben hatte, gehörte Herkules. Dessen Tür war nie abgeschlossen, weil kein vernünftiger Mensch es wagte, ihn nachts zu stören. Der Mann würde von Herkules eine ordentliche Tracht Prügel bekommen.

      Immer auf der Hut, nicht in eine weitere Falle zu tappen, suchte sich Benjamin seinen Weg durch die nächtliche Stadt zum Bahnhof. Er musste mit dem ersten Zug verschwinden – also bevor Grabow wieder zu sich kam. Der Fahrplan wies einen frühen Zug nach Berlin aus, aber der Bahnhof war noch geschlossen. Benjamin setzte sich vor dem Gebäude auf eine Bank und wartete. Die Angst, im letzten Moment abgefangen zu werden, verhinderte, dass er einschlief.

      Die Stadt erwachte und Benjamin sah im heller werdenden Dämmerlicht dabei zu. Pferde zogen Milchwagen durch die Straßen, Müllsammler mit ihren Hundekarren schlurften vorbei. Die Eisenbahner kamen zum Dienst und erschienen bald darauf in korrekten Uniformen hinter den erleuchteten Fenstern des Gebäudes. Vor dem Eingang bildete sich eine Schlange von Pendlern, die auf Einlass warteten. Dann wurde das schmiedeeiserne Gittertor geöffnet und die Menschen strömten in den Bahnhof. Benjamin folgte ihnen.

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