David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill

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David - Die Grausamkeit des Unterlassens - Maxi Hill

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späten Abend schlagen Türen in der Wohnung unter der von Ellen und Oliver Herold. Olivers Blicke huschen zu Ellen, die am Rechner sitzt und sich seit Minuten über etwas empört.

      »Soziales Netzwerk? So ein Blödsinn. Hier wird nur Langeweile geschoben. Schau dir das mal an! Jetzt postet man schon sein Essen, bevor man es verschlingt. Und diese geistreichen Kommentare. Ellen flötet in höchsten Tönen: Ist ja süüüüß! Na, dann Guten Appetit, liebe Ira. «

      Als sich ihre Stimme wieder in der normalen Oktave bewegt, schüttelt sie ihren Kopf: Ist das für einen normal bemittelten Menschen soziale Kommunikation? Ist miteinander zu reden aus der Mode gekommen?

      »Ist zu reden die einzig menschliche Art des Verstehens? «, erwidert Oliver, während Ellens Gedanken die direkte Richtung bis vor die Tür der Familie Brock nehmen: Worte sind wie Gewehre. Einige retten dich vor dem inneren Tod. Andere töten dein Ego.

      Oliver schenkt dieser offenkundigen Absurdität im sozialen Netzwerk nur selten Beachtung. Manchmal kommt auch er nicht umhin.

      »Vielleicht wohnen die meisten der Facebook-User auch in einem Haus mit so wortkargen Untermietern. « Sein Daumen zeigt zur Tür, mehr an Gesten ist nicht vonnöten. Sie weiß, dass er Untermieter falsch anwendet, aber sie weiß auch, wie er es meint und auf wen seine Spitze abzielt.

      »Wortkarg schon, aber sonst ziemlich laut!«, erwidert sie aus lauter Höflichkeit, dennoch mit eindeutiger Geste nach unten, woher die Laute zumeist kommen.

      Das Schlagen der Türen unter ihnen ist eine Sprache für sich, und jetzt fällt Ellen das Kind wieder ein. Noch ehe sie den Nerv aufbringt, mit Oliver darüber zu reden, murmelt er vor sich hin: »Gregor Brock kommt vielleicht gerade wieder aus der »Glucke« Ich hab ihn dahin gehen sehen. Wird wohl wieder hackevoll sein. «

      »Am Monatsanfang, sagt Frau Hedel, geht die Mutter auch mit, und manchmal nehmen sie sogar die Kinder mit in diesen Kneipendunst. «

      Oliver schüttelt seinen Kopf, unmerklich, aber ihr entgehen seine minimalen Gesten nicht: »Wie mein Freund Kalle schon sagt: Auf den Geldtag folgt zuverlässig die Schnapsidee. «

      »Wenn das Geld dafür reicht!« Oliver weiß, dass sie sich um die Aufwendungen der staatlichen Sozialfürsorge keine Gedanken macht. In dieser Hinsicht ist sie einigermaßen begriffsstutzig. Ihr Mann dreht seinen Körper zur Hälfte in ihre Richtung. Das tut er nur, wenn er ganz bei der Sache ist. Und das wiederum wundert Ellen jetzt.

      »Bei den vielen Kindern leben die alleine vom Kindergeld schon nicht schlecht. Hinkebein kriegt überdies noch Hartz IV, und Brummbär geht schließlich arbeiten. «

      Hinkebein und Brummbär nannte Oliver die Brocks schon, als sie beide damals hier eingezogen waren und sie noch keinen einzigen Namen ihrer Nachbarn kannten.

      »Wo arbeitet er?«, fragt Ellen ehrlich interessiert.

      »Arbeitsbeschaffung glaub ich. Viel fällt da nicht ab, aber er fällt damit aus der Statistik …«

      »Genau das ist der Umstand, den man beklagen könnte, andererseits … Ein Intelligenzbolzen ist der schließlich nicht. «

      »Zum Kinderzeugen reicht sein Grips«, sagt Oliver. »Wie viele Kinder haben die eigentlich? « Mit dieser Frage kommt er ihrer eigenen Neugier ziemlich nahe.

      »Keine Ahnung. Frau Hedel sagte unlängst, drei wären in einem Heim, seit die Mutter den Unfall hatte. «

      In der nächsten Minute denkt Ellen, man muss einfach über eine Sache reden, um sie endlich zu begreifen: Vielleicht ist der Kleine einer von denen aus dem Heim. Vielleicht kommen die Kinder ab und zu nach Hause? Aber würde die Mutter in diesem Fall so mit dem Kleinsten umgehen? Wenn sie ihn nicht liebt, muss sie ihn doch nicht nach Hause holen. Dieser David ist bestimmt das Nesthäkchen. So klein und zierlich wie er ist.

      Als sie den Rechner schließt, weil das, was sie sieht und liest alles andere als sozial ist und eigentlich nur nervt, erzählt sie Oliver von dem Kind auf der Schwelle vor Brocks Tür. Er ist noch mit etwas befasst, was sie nicht erkennt, dennoch reagiert er – wohl mehr aus Anstand als aus ehrlicher Überzeugung: Halte dich da raus. Was diese Familie treibt, geht uns nichts an.

      Seit einiger Zeit fühlt sich Oliver vom kinderreichen Mieter unter ihnen gestört. Allzu heftig geht es zuweilen in der Wohnung zu. Sie sagt dann mitunter, über Kinderlärm habe man sich nicht zu beschweren, dabei ist es längst nicht nur das. Die Alten brüllen lauter als die Kinder. Nur auf der Treppe oder im Aufzug sind die beiden stumm wie Fische. Zumindest die Frau ist nach Ellens Geschmack viel zu zurückhaltend, verängstigt gar, lässt sich auf kein Gespräch ein. Als ihre eigenen Kinder noch klein waren, ist sie, Ellen, mit beinahe allen Menschen ins Gespräch gekommen. Irgendein Wort ließ jeder fallen und es war ein Leichtes, in den Kanon einzustimmen. Frau Brock scheint aus anderem Holze zu sein. Als sie in dieses Mietshaus zogen, wusste Ellen, sie kannte diese Frau vom Sehen. In der kleinen Schlecker-Filiale hatte sie zeitweilig Waren in die Regale sortiert. Womöglich ist die Frau wegen der Schlecker-Pleite total verunsichert. Bei ihren vielen Kindern wird sie wohl einer Umschulung nicht zustimmen, vielleicht den Anforderungen auch gar nicht gewachsen sein. Wer weiß das schon. Vielleicht hat Oliver Recht – das geht die Nachbarn nichts an. Aber der Kleine tut ihr irgendwie leid … Einen Moment lang schließt sie die Augen und durchlebt den Moment im Treppenhaus noch einmal. Manchmal müssen Eltern den Kindern Grenzen setzen, das meint auch Oliver. Er war es schließlich, der mit den eigenen Kindern rigoros konsequent bleiben konnte. Sie hingegen hat sich an Pestalozzi orientiert: Erziehung ist Beispiel und Liebe, sonst nichts.

      In den ganzen Jahren hatte sie sich darauf verlassen, dass Konsequenz nicht schaden kann, aber wenn sie allein war mit den Kindern, durchlebte sie das Glücksgefühl zwischen ihrer Großzügigkeit und der kindlichen Anhänglichkeit. Wie Oliver darüber denkt, weiß sie nicht. Großzügigkeit gilt für ihn eher als Schwäche. Wohl wegen seiner Konsequenz zollten die Kinder ihrem Vater zwar den nötigen Respekt, aber innig waren sie nur mit ihr. Freilich tobten sie gerne mit Oliver herum und unternahmen Dinge, für die eine berufstätige Mutter keine Zeit aufbringen kann. Doch wohl nur sie spürte die kindliche Enttäuschung, wenn er die beiden abrupt und für deren Geschmack grundlos wieder zur Räson brachte.

      Zum ersten Mal stellt sie sich vor, wie es wäre, noch einmal ein so kleines Menschlein um sich herum zu haben. Sie würde vieles anders machen, jetzt, wo sie den nötigen Abstand zu allen Zweifeln hat.

      Das Mietshaus, in dem sie wohnen, wurde vor drei Jahren restauriert und sie zogen gern hier ein. Die Drei-Zimmer-Wohnung bietet alles, was sie zum Leben brauchen. Bester Standard, beste Lage und ebensolche Aussicht. Nicht zu unterschätzen die kurzen Wege für allerlei Besorgungen und auch für die Freizeit. Theater, Kino, Ämter und diverse Konsumtempel – all das in der Nähe zu wissen ist von Vorteil, weil ihr der Beruf nicht viel Zeit lässt. Ein bisschen zu groß ist der Block für Ellens Geschmack. Sie hätte es anheimelnder gefunden, irgendwo zu wohnen, wo jeder jeden kennt, so, wie sie es von zu Hause gewöhnt war. Aber Oliver ist so zu wohnen gewöhnt, wie es hier ist, und sie hat der sachlichen Vorteile wegen nachgegeben.

      Am Samstag muss Ellen das Treppenhaus putzen, noch immer. Oliver hat sich zwar bei der Wohnungsverwaltung darüber beschwert, dass in anderen Häusern eine Reinigungsfirma diese Arbeiten erledigt. Ihm ginge es nicht um die Arbeit, sondern um die Ordnung, weil gewisse Mieter eben davon nichts hielten. Die zuständige Mitarbeiterin hatte ihn aufgeklärt. Dass in ihrem Haus noch die Mieter selbst reinigen müssten, läge an den alten Mietverträgen. Nur die neuen billigten solche Art Entscheidungen einzig dem Vermieter zu, die alten Verträge wiesen dieses Recht nicht aus. In ihrem Hause wohnten aber noch viele Mieter mit alten

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