David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill
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»Guten Morgen«, sagt Ellen einigermaßen freundlich, trotz der Anstrengung, die das Bücken in ihrem Alter schon mit sich bringt. Frau Hedel lächelt zurück, im Ton aber klingt ihre Frage nicht freundlich. »Was wird denn nun eigentlich. Ich denke, Ihr Mann wollte sich darum kümmern?«
»Das hat er. Aber es stimmen nicht alle Mieter zu. « Ellen will nicht deutlicher werden, Frau Hedel macht aus ihrem Herzen nur selten eine Mördergrube. Und prompt hat sie ihr Stichwort: »Das können doch nur diese …«, sie schiebt ihren Kopf in Richtung der Wohnung unten links, wo Familie Brock in einer Fünf-Zimmer-Sozialwohnung wohnt. Ihr Mund hatte schon das große A geformt, dann aber doch davon abgesehen, das schlimme Wort Assi außerhalb ihrer eigenen vier Wände laut werden zu lassen. Es gab schon einmal einen Knatsch und Frau Hedel musste sich geschlagen geben. Wenn sie seither etwas vermeiden will, dann Krach im diesem Haus. »Ich kann das schon verstehen, Frau Hedel. «
Ellen richtet sich auf, unterstützt ihren Rücken mit beiden Händen, die sie fest gegen die Lenden presst. »Es sind immerhin zwischen fünf und sieben Euro jeden Monat. Dafür kann man schon ordentlich was einkaufen oder Schulmaterial für die Kinder. Das muss man den Menschen zugestehen. «
»Schulmaterialien? Liebe Frau Herold …«
Die Hedel kommt vorsichtig über die noch feuchten Stufen näher zu Ellen herunter. So wie sie den Handlauf loslässt, fährt ihr Finger in eindeutiger Geste an die Gurgel: »Darum wird es wohl gehen! Oder um eine Schachtel Zigaretten mehr oder weniger. Mir muss man nichts erzählen. Erst gestern wieder …«
Unten geht die Tür auf und Frau Brock tritt über die Schwelle. Ihre ausgeblichene Kittelschürze verdeckt die blassen, dicklichen Knie der Frau nicht. Aus unerklärlichem Grund besinnt sie sich auf etwas und schließt die Tür wieder von innen. Nach Sekunden betretenen Schweigens nutzt Ellen die Gelegenheit: »Jetzt, wo die Schlecker-Pleite der Familie zusätzliche Probleme bringt, habe ich durchaus Verständnis für die Ablehnung. «
Frau Hedel kommt Ellen so nah, dass sie den schlechten Atem der Frau und den Dunst ihrer Kleidung nach Fleischbrühe ertragen muss.
»Die hat doch längst nicht mehr dort gearbeitet. Was meinen Sie denn, warum die ihre Kinder aus dem Heim zurückgeholt haben. Den Falk, die Susi und den David. Das Kindergeld für drei Gören zusätzlich ist ein ziemlicher Batzen. «
Ellen hört auch diese beiden Kinder-Namen zum ersten Mal. Sie interessiert sich nicht für Kindergeld und dergleichen. Ihre Gedanken kreisen: Dann war der Kleine, der auf der Schwelle gesessen hat, bis jetzt im Heim? Kein Wunder, dass ich den nicht kenne.
»Warum waren die Kinder im Heim? «, fragt sie wie beiläufig.
»Na weil die Birthe, die Mutter eben, sich aus dem Fenster gestürzt hatte, damals vor vier Jahren in etwa. Das hat sie nun davon. Wird wohl nichts mehr mit ihrer Hüfte. Wird wohl ewig humpeln. «
Ellen hatte sich auf einiges gefasst gemacht, aber für die Hedel ist es ein Leichtes, sie Tag für Tag mit ihren Neuigkeiten zu verblüffen.
»Vor vier Jahren? «
»Oder fünf.« Frau Hedel presst die Lippen aufeinander und schnauft stoßweise aus der Nase. »Der David war kaum ein halbes Jahr und völlig verwahrlost soll er gewesen sein …«
»Dann müsste David ja schon mindestens viereinhalb Jahre alt sein? «
»Das bestimmt«, sagt die Frau und will zu einer weiteren Tirade ansetzen. Nicht, dass es Ellen nicht interessieren würde, aber jetzt will sie sich keine weitere Bemerkung zuschulden kommen lassen. Außerdem bäckt in ihrem Herd ein Kuchen und die Wäsche in der Maschine müsste längst aufgehängt werden. Es wird noch alles zerknittern in der Trommel. Rasch bückt sie sich, wischt hurtig über den letzten Absatz und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sie schon viel zu viel Zeit unnütz vertan hat. Als die Hedel die Fassung wiedererlangt, wischt sie ihren Ärger mit den Handrücken an der Bluse ab und steigt über die feuchten Stufen ihrer gemeinsamen Wohnetage entgegen.
Genervt, dass ihr das Kind nach Frau Hedels Gerede schon wieder im Kopf herum geistert, nimmt Ellen sich nach getaner Arbeit ein Buch zur Hand und lenkt ihre Gedanken weg von diesem Haus, weg von der Familie mit den unbekannten Sorgen, weg von dem Kind, das viel älter ist als es aussieht. Auch weg vom Mitleid für die Mutter, die sich nicht ohne Grund aus dem Fenster gestürzt haben wird.
Zum Glück hat sie selbst einen guten Mann – die wohl beste Partie überhaupt, die sie hätte machen können. Sie fühlt sich respektiert und kann sich nicht vorstellen, mit einem anderen Menschen so als Mann und Frau zusammenleben zu müssen.
Mit all der Leidenschaft, die sie aufbringen kann, mit all der Dankbarkeit für ihr gutes Leben, deckt sie zwei Stunden später auf dem Balkon den Kaffeetisch und stellt den noch warmen Kuchen dazu. Oliver ist nicht anspruchsvoll, aber ein Wochenende ohne selbstgebackenen Kuchen ist kein Wochenende.
Verflucht
»Kuchen will der Hundsfott! «, schreit Birthe Brock und schlägt mit der flachen Hand derb auf die kleinen Finger, die nach dem Tablett gieren, das auf der Kühltruhe steht. »Wer sein Mittag nicht isst, kriegt auch keinen Kuchen. «
Genaue Töne formen die Lippen des Kindes nicht, aber es beißt und kratzt und tritt nach der Mutter. Das ist zu viel für Birthe. Ihre ganze Verzweiflung des Tages schlägt um in jene Kraft, die sie bei ihren Schmerzen in Bein und Hüfte oft vergisst. Wie von Sinnen schlägt sie zu. Zuerst erwischt sie den Rücken, dann die Oberarme und schließlich treibt ihre Wut die an Kraft schwellenden Schläge gegen den Kopf des Kindes, das nicht aufhören will zu schreien und um sich zu schlagen. Sie packt das Balg, bändigt die Schreie mit harter Hand und schleift das Kind ins Zimmer, stößt es hinein und verschließt die Tür. Zu allem steht man alleine da …! Ihre Lippen formen diese Worte nicht, ihr Kopf schiebt sie hin und her, den ganzen Tag schon, an dem sie Leute spazieren gehen sah, fein gekleidet, oder die Nachbarsleute im Auto auf Tour fahren hörte. Wann gab es das für sie das letzte Mal? Nicht einmal zur Glucke konnte sie heute mit …
Derweil ringt das siebente Kind der Birthe Brock hinter der Tür nach Luft. Sein Kopf ist nicht mehr blass, er ist rot und die Lippen bläulich. Nach einer Minute beginnt es zu schreien, mit Händen und Füßen auf den Boden zu schlagen, die Kissen und Decken aus seinem Bett zu reißen und im Zimmer zu verteilen. Und dann ist es wieder so weit. Der warme Strahl rinnt an seinem Schenkel herunter. Einen Moment genießt es das Gefühl. Die Pfütze auf dem Boden wird größer und größer, und es weiß, was es für die Frau hinter der Tür bedeutet, zu der es Mutti sagen soll. Sie wird ihn packen und mit der Nase hinein stupsen. Das kann David verhindern, er ist ja nicht dumm. Er legt das Deckbett über die Pfütze und sich selbst darauf. Eine Weile noch zeigt seine Stimme, dass er wieder lebendig ist, aber bald findet er Gefallen an einem Stock, an dem sein Bruder einen Gummi befestigt hat. Noch beherrscht er es nicht, eine Murmel oder Erbse mit dem Gummi abzuschnippen, aber er hat Geduld. Wenn bloß der Bauch nicht so rumoren würde.
Birthe Brock horcht an der Tür.