David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill

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David - Die Grausamkeit des Unterlassens - Maxi Hill

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zog wortlos von dannen. Regen und Sonne ließen das Bäumchen wachsen und gedeihen und bald hatte es mehr Blüten, als der Baum tragen konnte. Da kam ein altes Mütterchen an der Hütte vorbei: »Du musst die Blüten zum Markt tragen! «

      »Ich kann den steinigen Weg zur Stadt nicht gehen, ich habe keine Schuhe. «

      »Lade auf meinen Buckel, was du verkaufen möchtest. Ich will es für dich tun. «

      Das Mädchen tat, wie ihm geheißen und sagte der Alten: »Sieh zu, dass du den stolzen Reiter triffst. Schenke ihm drei Blüten, die bin ich ihm schuldig.« »Der Arme ist dem Reichen nichts schuldig«, sagte die Alte und zog mit der Last auf dem Buckel davon. ♦

      Seit einiger Zeit spürt Ellen deutlich, wie das Kind zu ihr aufblickt, sobald sie nur Luft holt, und wie es wartet, dass sie weiter liest.

      ♦ Nach Wochen, als der Goldregenbaum wieder in prächtiger Blüte stand, erschien die Alte wieder vor der Hütte. Aus ihrer Kiepe holte sie Schuhe für das Mädchen und allerlei Nützliches gegen den Hunger bei Tage und gegen die Kälte bei Nacht.

      »Das alles hast du für den Goldregen bekommen? «

      Die Alte lachte: Wenn ich jung und schön wäre, hätten mir die Leute noch mehr bezahlt.

      »Das ist ungerecht«, sagte das Mädchen, bedankte sich artig, lud die Alte zum Abendschmaus ein und bot ihr ein Lager für die Nacht.

      »Warum tust du das? Du hast doch selbst kaum zu essen. «

      »Ich tu es aus Freude. Wer keine Freude hat, lebt nicht mehr. «

      Noch ehe die Sonne am Morgen ihre ersten Tränen auf das Bäumchen weinte, war die Alte verschwunden und das Mädchen hat nie wieder etwas von ihr gehört.

      ♦

      Vielleicht sollte sie an dieser Stelle aufhören zu lesen? Überfordert sie ein so kleines Kind mit dieser Geschichte? In diesem Moment spürt sie, wie David ganz nah an sie heranrückt. Etwas muss im kleinen Kopf vorgehen. Etwas, was angenehm war oder ist.

      ♦ Fortan ging das Mädchen selbst in seinen festen Schuhen den steinigen Weg hinunter in die Stadt und verkaufte die Goldregenblüten auf dem Markt. Es war der einzige Schatz, den es besaß. Vom Erlös kaufte es ein, was es für ihr bescheidenes Leben brauchte. Nicht lange, da trat ein Fremder zu ihm heran. Er hatte die Augen der alten Frau, aber er sprach mit fester Stimme: »Komm mit mir, ich zeige dir, was dein Goldregen wert ist. «

      Dieser Mann mit den Augen der Alten erinnerte das Mädchen zugleich an den stolzen Reiter. Es erschrak, hatte es doch vergessen, die Alte zu fragen, ob sie getan hat, worum sie gebeten wurde. Der Mann sah die Not des Gewissens im Gesicht des Mädchens. Er bedankte sich höflich für die drei Blüten, die die Alte ihm geschenkt habe. Froh über diese Botschaft willigte das Mädchen ein, mit dem Mann zu gehen. Nicht weit vom Markt stand ein wunderschönes Haus mit goldenem Dach und mit grünen Fensterläden und davor blühte ein prächtiger Goldregenbaum.

      »Es gehört dir«, sagte der Mann. »Ich hab es für dich gebaut. «

      »Warum tust du das? «, fragte das Mädchen

      »Ich tu es aus Freude«, sagte der Mann. »Wer keine Freude hat, lebt nicht mehr. «

      ♦

      Es ist verlorene Zeit, denkt Ellen, der Junge hat kein Wort verstanden. Aber ist das wirklich für sie so wichtig? Sollte der Junge nicht nur Vertrauen schöpfen? Vertrauen in ihre sanfte Stimme. Zutrauen, dass ihm hier nichts Bösen geschieht. Ob verstanden oder nicht, die Nähe und die Güte ihrer Stimme hat er wohl genossen, sofern er sich nur nicht traute, aufzubegehren.

      In ihren Zweifel hinein greift das Kind nach Ellens Hand. Wortlos. Grundlos? Es hebt das blonde Köpfchen und strahlt sie an, als habe sie ihm ein Geschenk bereitet, das er sich sehnsüchtig erträumt hat. Die unverhoffte Wärme in ihrer Brust gehört zu ihrem Wunsch, zu ihrem Traum.

      »Noch …«, sagt er, und es klingt gar nicht mehr so zaghaft. Er schiebt das Buch in ihren Schoß. Langsam kommen ihr Zweifel, ob das Kind überhaupt sprechen kann oder ob es nur nicht will. Sie lässt David selbst die Buchseiten umlegen. Ungeschickt. Ungeübt, wie es scheint. Seine Hand, deren ungelenke Bewegung beinahe die Seiten ruiniert, hält bei einem der bunten Bilder inne. Zwei Kinder irren durch einen dunklen Wald, an dessen Rand schon eine Hütte zu sehen ist, aus deren Schornstein weißer Watte-Rauch aufsteigt und deren Fensterläden wie Pfefferkuchen aussehen, die mit süßem Eclair verziert wurden, und das Dach, das mit Puderzucker bestreut zu sein scheint.

      »Das soll ich lesen? «

      Der Junge strahlt und bringt zum ersten Mal mehr als nur knappe Worte heraus: »Hm. Und das … und das …«

      »Gut, David. Das alles lesen wir. Versprochen. Aber erst müssen wir dich baden. Du bist ganz kalt und kalte Kinder dürfen keine Märchen anhören. «

      Es ist blöd. Saublöd. Sie ist völlig aus der Übung. David sagt nichts dagegen, schaut sie nur fragend an. Sie nimmt seine Hand und führt ihn ins Bad, wo sie längst fast lautlos warmes Wasser eingelassen hat.

      Das Kind lässt alles geschehen. Sie könnte doch froh sein. Doch ihre Zweifel mehren sich. Die dunklen Streifen an Armen und Füßen sind gar kein Schmutz, ebenso die Flecken an Brustkorb und Lenden nicht, die sie erst jetzt bemerkt.

      Derweil David mit dem Schaum spielt, als habe er ihn lange vermisst, steht sie fassungslos dabei. Sie möchte ihn fragen, was er da angestellt hat, aber bei den wenigen Worten, die sie aus ihm herausbekommt, hat das alles keinen Zweck. Hin und wieder stockt seine Bewegung, und weil sie ihm zunickt, fährt er mit seinem Spiel fort. Quiekend schüttet er eigenhändig mit dem Becher Wasser über seinen Kopf und lacht dabei, wie sie es von diesem Kind noch nie gehört hat und deshalb nicht vermutet hätte.

      Es ist das erste Mal, dass sie den Jungen in ihrer Nähe hat. Es muss nicht das letzte Mal bleiben, und deshalb wird es noch genügend Anlass geben, den Grund der Flecken aufzuspüren. Geschwister können rabiat sein, meinen es vielleicht nicht einmal böse. Aber manch ein Spiel ist unangebracht für ein so zartes Kind.

      Irgendwann lässt die Wärme des Wassers nach und das freudige Spiel muss mit Vernunft beendet werden. Als sie David aus der Wanne heben will, scheint es ihr, als wollte er beißen und kratzen, doch sie muss sich wohl geirrt haben. Die Bilder des verstörten Kindes auf der Schwelle, vor allem das unsichtbare danach, das ihr geistiges Auge abbildet, weil sie es miterlebt zu haben glaubt, beherrschen sie noch immer.

      »So, mein Kleiner. Jetzt rubbeln wir dich trocken und dann lesen wir das Märchen von Hänsel und Gretel. «

      Auch das Rubbeln, das ihren eigenen Kindern nie Freude bereitet hat und das sie deshalb nur zögerlich beginnt, gefällt dem Jungen offenbar. Erst als sie sagt: »Und dann wollen wir mal sehen, ob deine Mama inzwischen zu Hause ist«, schubst er sie weg. Sie übersieht die Garstigkeit, hält ihr Versprechen trotzdem ein und nach dem Märchen gibt es noch einen Schokoriegel mit auf den Weg.

      Dann hört sie Lärm aus der Wohnung von unten. Gregor Brock ist nach Hause gekommen und tobt. Wortfetzen von Essen, das mal wieder nicht fertig ist … die Wohnung nicht aufgeräumt …

      Was immer es ist, es geht sie nichts an. Nur David will sie jetzt um keinen Preis nach Hause bringen. Nach dem, was sie gesehen hat, muss sie annehmen, es wäre nicht das erste Mal, dass der Junge zwischen Frustschläge geraten ist. Was aber, wenn die Eltern

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