David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill
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Zum Glück haben Sven und Niklas Brückmann sich gegenseitig und sie können sich aufeinander verlassen. Keiner von ihnen spricht es aus, aber ihr Problem, das bleibt nicht unausgesprochen.
»Wenn die so viel Knete für uns Kinder kriegen, können die doch auch mal die 25 Euro für die Klassenfahrt locker machen … Dann müssten wir nachher nicht …«
Was zu sagen wäre, verschluckt Niklas, weil Sven es ohnehin nicht hören will.
»Fuffzig«, wendet der ein. »Zum Glück hat der Alte wenigstens noch was gecheckt. «
»Zum Glück nicht das andere … Das vom Heiraten. Das hätte dem die Sprache verschlagen …«
Verwöhnt
Der Tag, an dem es Ellen Herold die Sprache verschlägt, ist ein düsterer. Regen fällt wie ein bleierner Vorhang vor das Bild der Stadt. Am windstillen Himmel hängen schwere, graue Wolken, die beschlossen haben, kein einziges Blinzeln der Sonne hindurch zu lassen. Es ist ein kühler Spätsommertag, kühler als es der letzte Augusttag zu sein hat. Gemessen an den Temperaturen hätte sie eine gefütterte Jacke vertragen, aber gemessen am Kalender entschloss sie sich für eine ganz normale Kostümjacke.
Als sie fröstelnd das Haus betritt, gibt es diesen Moment der Sprachlosigkeit. In der ersten Sekunde wundert sie sich. In der zweiten ist sie sofort in Sorge und schon die dritte erfüllt sie mit Zorn. Auf den kalten Stufen im Parterre sitzt David Brock nur im Unterhemdchen und Slip, barfüßig und, wie es scheint ungewaschen und ungekämmt, wobei letzteres für Ellen völlig unwichtig ist. Mit seinen unfassbar hellgrünen Augen schaut das Kind zu ihr auf und Ellen glaubt ein Lächeln der bleichen Lippen zu erkennen. Ein zärtliches Mitleid löst die Wut in ihr auf, die niemanden als die Eltern betrifft. Der Blick des Jungen bewirkt in Sekundenschnelle ihre herzliche Zuneigung.
Es war dieser besondere Augenblick. Hätte sie ihrem Temperament freien Lauf gelassen, wäre sie mitsamt dem Jungen zu den Eltern marschiert und hätte denen auf ihre Art Bescheid gesagt. So aber nimmt sie das Kind, steigt in den Aufzug und fährt an der Etage vorbei, in der David wohl eine Bleibe, aber kaum ein gutes Zuhause haben dürfte. Andererseits betrifft ihr Zorn das ganze Haus: Wie viele Leute sind schon an dem Kind vorbei gegangen? Angewidert vielleicht. Gleichgültig allemal. Wer noch halbwegs bei Trost ist, muss doch erkennen, dass dem Kind etwas fehlt!
Die großen Augen des Jungen, der wie angewurzelt in ihrem Arbeitszimmer steht und die Gegenstände bestaunt, die noch von ihren eigenen Kindern zurückgeblieben sind und die zu entsorgen sie nicht übers Herz bringt, wirken auf Ellen wie ein göttlicher Ritterschlag. Behutsam bringt sie in seine Nähe, wovon sie glaubt, dass es ihm gut tun könnte. Eine flauschige Decke gegen den ausgekühlten Körper. Zwei Scheiben von dem Gugelhupf, auf die sie mit bunten Plätzchen rasch ein Gesicht zaubert. Und ein Glas warme Milch, in die sie mit flinker Hand einen Schuss Honig gegeben hat. Sie hält sich zurück, will ihn nicht erschrecken. Noch könnte der Blick aus den Kulleraugen auch Skepsis sein. Und dann murmelt das Kind etwas, was sie nicht versteht, was sich aber wie Urmel anhört, allenfalls Ursel. Es wird wohl Urmel sein, denkt sie. Das Urmel aus dem Eis ist ihr noch gegenwärtig. Vielleicht hat er unter den Dingen im Schrank etwas entdeckt, was ihn an das Urmel im Eis erinnert. Vielleicht aber heißt auch jemand aus der Nähe des Kindes Ursel. Die kleinen Finger tasten über den Kuchen, klauben eines der Augenplätzchen heraus und führen es seltsam ängstlich an die Lippen. Das Zucken des Körpers entgeht ihr nicht, dabei hat sie noch keinen Ton gesagt und schon gar keinen, der ein Zucken verursachen könnte. Doch sie muss mit ihm reden, sonst traut er sich nichts.
»Das darfst du essen. Und die Milch darfst du trinken. Sie ist schön warm. Du frierst doch, nicht wahr? «
Das zweite der beiden Augenplätzchen steckt schon bald zwischen den blassen Lippen, die noch einmal das Wort entlassen, was jetzt viel deutlicher nach Ursel klingt. »Ursel macht auch immer solche Kuchengesichter? «, fragt sie vorsichtig.
Der Kopf des Jungen geht hin und her. Also nein? Der kleine Finger des Jungen wandert zum Glas mit der Milch. Also wird Ursel ihm Milch zu trinken geben.
»Trink nur, bevor sie wieder kalt wird. «
Es wird wohl besser sein, das Kind für den Moment allein zu lassen, denkt sie. Aber es müsste erst gewaschen werden, am besten gebadet. Das wäre sowohl gegen den Schmutz angebracht, als auch gegen die Kälte im mageren Körper. Ellen weiß, dass sie bei einem so verstörten Kind nichts überstürzen darf. Dennoch. Einen warmen Waschlappen über seine Hände zu streifen ist das Mindeste …
Der Junge lässt es geschehen, und das ist der Anfang allen Mutes, den Ellen Herold an diesem Tag aufbringt, um Vertrauen von diesem Kind zu erheischen.
Als die Milch verschlungen, der Kuchen so nach und nach seinen Weg der Bestimmung genommen hat, legt sie ein buntes Buch an dieselbe Stelle, von der sich der Kleine noch nicht wegbewegt hat. Sie fragt ihn, ob sie ihm daraus vorlesen soll, doch er antwortet nicht. Nur seine Finger berühren neugierig die Seiten mit den Bildern, die mal lustig, mal gruselig anmuten, aber dennoch der Phantasie eines Kindes nicht abträglich sind.
Sowie sie das Buch in ihre Hände nimmt, geht dasselbe Zucken durch den schmächtigen Körper, als ducke er sich vor irgendetwas. Weil nichts passiert, schaut David sie mit großen Augen an, die jetzt weniger ängstlich, vielleicht sogar zufrieden aussehen. Das wohlige Gefühl des Sattseins und die Wärme der Milch haben in seinem Bauch die kindliche Abwehr besänftigt. Es ist die geschwollene Sprache in diesem alten Märchenbuch, die sie davon abhält, dem Kind daraus vorzulesen. Und es sind die Grausamkeiten, die Menschen im Märchen verüben und die nichts mit dem Leben von jetzt zu tun haben können. Dergleichen hat sie ihren eigenen Kindern allzu gerne erspart und manchmal ein Märchen einfach umgedichtet. Aus der Schublade zieht sie zwei Blätter, die sie gottlob erst vor kurzem ausgedruckt hatte. In ihrer Schreibgruppe Die Wortwanderer, die sie halbherzig und dennoch nicht ungern besucht, hatte man beschlossen, mal ein Märchen zu schreiben. Nur vorgelesen hat sie es dort nicht, noch nicht. Vielleicht auch nie. Erst einmal sehen, wie ein Kind darauf reagiert. Schon beim Überfliegen der ersten Zeilen erkennt Ellen Herold, dass es eigentlich ein Märchen für Erwachsenen ist, zumindest, was die Moral der Geschichte ausmacht. Doch der Junge hört zu, auch wenn seine noch immer kalten Finger über ein ganz anderes Bild aus dem Buch streichen. Sie weiß es noch aus ihrer eigenen Kindheit, als sie allzu gerne zu einem Hörspiel im Radio Bilder malte und wie sich die Dinge darauf mit den Worten verknüpften, die sie hörte.
»Der Goldregenbaum«, beginnt sie und legt rasch das ausgedruckte Bild auf die Seite des Märchenbuches, die noch geöffnet ist; Goldregenblüten, die sie als Hintergrund für das Deckblatt ihrer Geschichte vorgemerkt hat, so eitel ist sie wenigstens.
♦ In alten Zeiten, als das Gute noch belohnt und das Böse noch bestraft wurde, lebte ein Mädchen am steinigen Berg. Es war zum Weinen arm. Selbst die Sonne zog sich traurig eine Wolke vors Gesicht, sobald sie es sah. Das Mädchen lebte in einer einsamen Hütte, schlief auf einer harten Matte und besaß nicht einmal Schuhe. Wenn es spielen wollte, nahm es drei Steine von der kargen Erde und ließ sie den Hang hinunterrollen. Vor ihrer Hütte aber stand ein kleiner Baum mit gelben Blüten. Sobald das Mädchen aus der Hütte trat, fielen drei Tropfen aus einer winzigen Wolke auf das Bäumchen. Fortan nannte sie es Goldregenbaum. Dieser Baum trug zuerst nur drei Blüten, aber die waren in dieser tristen Welt des Mädchens allergrößte Freude. ♦
Ellen macht eine Pause und schaut in das Gesicht des Kindes, das nicht mehr so verstört aussieht wie noch vor kurzem auf der Treppe.
♦ Eines Tages kam ein stolzer Reiter des steinigen Weges. »Verkauf mir die Blüten«, sagte er. »Es soll dein Schaden nicht sein. «