David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill

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David - Die Grausamkeit des Unterlassens - Maxi Hill

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Schluss machen wollen. Einfach Schluss! Ob sie Gregor strafen wollte oder ihre Söhne, die nie wirklich mit anpacken, das war ihr damals selbst nicht klar. Aber eine Strafe wäre nur gerecht gewesen. Nun aber hat sie den Schaden ihres Fenstersprunges ganz allein und sie krankt noch immer daran. Ihr Hüftknochen war gebrochen. Und nun hinkt sie, weil sie nicht einmal zu einer Reha gehen konnte. Ein bisschen ambulant geübt, aber nicht einmal das hat sie durchgestanden. Freilich war Gregor erschrocken und sogar für kurze Zeit zugänglicher geworden, belohnte sie auch hier und da mit dem, was er Liebe nennt. Die Kinder kamen sofort in ein Kinderheim. David hatte ihr vom ersten Tag an Scherereien gemacht, wollte schon als Baby nicht ordentlich essen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wären die Kinder noch immer dort. Vielleicht hätte sie ja wieder eine kleine Arbeit gefunden. Besser als diese Ohnmacht, von all dem abhängig zu sein, was sie bei den Ämtern bekommt. Freilich, Gregor macht es sich einfach. Wenn kein Geld im Hause ist, muss sie zum Amt, irgendeine Zuwendung ergattern. Sie leben vom Kindergeld und von diversen Sozialzuwendungen. Und wenn das alles nicht reicht, schickt Gregor sie wieder los wegen irgendwelcher Berechtigungsscheine. Er macht sich um nichts Sorgen. Jeden Tag sitzt er nach der Arbeit in der Kneipe, und als sie sich einmal beschwerte, bot er ihr an, einfach mitzukommen und ihren Frust hier zu Hause zu lassen. Dass das alles noch mehr ins Kontor schlägt, will er nicht begreifen. Und dann – war sie wieder schwanger mit Chrissi und ein Jahr später mit Moni - als ob sie noch dieselbe wäre wie vor dem Sturz. Schlimmer noch, als ob sie nicht schon genug Gören um sich herum und auch durchzufüttern hätten.

      Es ist kurz nach sechs. Die Großen sind unterwegs und Gregor muss sie noch nicht befürchten. Ihre Hand greift hinter den Vorhang unter der Spüle. Nicht sofort, aber dann fischt sie die Flasche hervor. Das muss jetzt sein. Gregor weiß nichts davon. Es ist ihre eiserne Reserve für Momente wie diese, in denen sie nicht mehr ein noch aus weiß mit dem störrischen Jungen, oder wegen der Sorge ums liebe Geld, aber manchmal auch wegen ihrer großen Söhne. Nicht etwa, weil sie bei Nachbarn wie Lehrern nicht hoch im Kurs stehen. Nein. Ihre Herren Söhne beginnen zu motzen, weil sie nicht verstehen, was gerade angesagt ist. Jetzt ist Härte angesagt, gerade gegen David, das Horrorkind. Sie müsste noch aufräumen, den Fußboden wischen, die Wäsche türmt sich … Das alles kann warten. Sie nimmt den ersten Schluck und denkt sofort: Du trinkst auch wegen Gregor!

      Sie hat sich das Leben mit ihrem zweiten Mann besser vorgestellt. Damals. Immerhin war sie froh, wieder einen gefunden zu haben. Sie hatte schon drei Kinder. Die Zwillinge Sven und Nicki, aber auch Holger, der einzige, der schon außer Haus ist und den es auch nicht nach Hause zieht.

      Nach dem vierten Glas wird es leichter um ihr Gemüt. Das Kind im Zimmer nebenan ist vergessen, die anderen spielen hinterm Haus und die Großen kommen – wenn überhaupt – zur Abendbrotzeit. Wenigstens das haben sie beibehalten: Gemeinsam zu essen. Alles andere würde auch nicht klappen. Sie bringt auf den Tisch, was gegessen werden kann, schön eingeteilt für jeden. Sie muss die Übersicht behalten. Da war es die einzige Konsequenz zu sagen: Wer nicht da saß, der nicht mit aß. Basta.

      Der zottelige Kopf fällt auf den Küchentisch. Es ist so friedlich und still jetzt, das liebt sie so … Klar weiß sie, dass die Großen oder auch Gregor ihr manchmal in den Rücken fallen. Heimlich bringen sie dem, der sich nicht an die Regeln gehalten hat, etwas zu essen ans Bett. Meistens aber mischt sich Gregor nicht in ihre Erziehung ein. Er will keinen Stress und er meint auch, es muss einer die Zügel führen. Bequem ist das Leben für ihn allemal. Und von den Bequemen einer ist Gregor Brock schon immer gewesen.

      Gegen sieben kommen die Großen und bringen die Kleinen vom Spielplatz mit nach oben. Es ist Zeit, sich zu erheben … Die Welt schwankt, aber sie ist noch Herr ihrer Lage.

      Nach David fragt noch niemand. Gerade, als der Tisch gedeckt ist, stolpert Vater Gregor herein. Er räuspert sich, setzt an, etwas zu erklären, um mit einer wegwerfenden Handbewegung sein Vorhaben wieder zu lassen. Birthe dreht sich um. Obwohl er es schafft, seinen Zustand einigermaßen vor ihr zu verbergen, hat sie den Dunst der Glucke sofort in der Nase. Kalter Rauch und Fuselgestank. Auch sie ist bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Eigentlich hat sie selbst genug. Und dann fällt ihr ein, sie wollte noch für alle eine Tütensuppe kochen. Nudeln mit Hühnchenfleisch. Gab es en gros bei der städtischen Tafel. Macht nichts. Sie hebt die Tüten auf für die kälter werdenden Abende. Wenigstens stellt sie noch den Schmalztopf dazu. Die rasche Drehung aus der kranken Hüfte lässt sie stolpern. Sie schlägt vor dem Küchentisch auf den Boden und flucht. Langsam, ganz langsam erhebt sich erst der Kopf, dann der Brustkorb. Schwieriger werden die Beine, für deren richtige Position sie einige Versuche braucht.

      »Was ist los? «, flucht Gregor. Als ob er das nicht wüsste. Hat selber Probleme, sich senkrecht zu halten, kommt sowieso bloß heim, weil er Hunger hat.

      »Kannst mal eins und eins zusammenzählen«, mault Birthe und rappelt sich endgültig auf.

      »Der war schon immer schlecht in Mathe«, kräht Sven dazwischen, »und er lebt noch immer. «

      Sven Brückmann hat auch seine Probleme, um die sich keiner kümmert. Nur Lehrer Pittkuhn redet ihm dauernd ins Gewissen, er würde sich das Leben verbauen. Na und? Dann wird er eben Maurer.

      »Euer Vater lebt besser als ich, wie man sieht. Ich arbeite sieben Tage die Woche, er viereinhalb. Freitag ab eins macht jeder seins …« Ihr Lallen ist weder Sven noch seinem Bruder Niklas entgangen. Sie sitzen bei Tisch und ordnen die Naturalien ein bisschen, weil das der Mutter heute nicht gelang. Das ist nichts Besonderes. An Dingen, die ihnen nützen, beteiligen sie sich gern. Daran, dass die Kleinen ihre von Schmutz verkrusteten Hände zu waschen hätten, denkt heute niemand. »Wo ist David? «, fragt Sven, der den Kleinen nicht oft neben sich ertragen muss. Etwas ist immer mit diesem Terrorkind. Je seltener er dabei ist, desto mehr Platz am Tisch hat Sven und nur das interessiert ihn jetzt.

      »Im Straflager«, mutmaßt Niklas und er liegt mal wieder gar nicht so falsch. Auf einen Wink vom Vater geht er zum Zimmer der drei Kleinen. Es ist verschlossen. Der Schlüssel steckt – das weiß er zumindest - in Mutters Schürzentasche.

      Niklas Brückmann mag seinen kleinen Halbbruder inzwischen, obwohl sich David noch immer nicht an seine richtige Familie gewöhnt hat. Das ist auch kein Wunder. Er war noch viel zu klein, als er weg musste. Und dann, als er wieder zurückgeholt wurde, kannte er niemanden mehr. Alles war nur bedrohlich für ihn. Noch immer wehrt er sich gegen alles und jeden mit der ganzen Kraft seiner kleinen Gestalt.

      Mutter sagt zwar, er war schon als Säugling so, und sie wisse nicht, warum er so anders sei als die anderen. Aber Niklas findet das Bürschchen irgendwie witzig. Mit seinen dünnen Beinen und den knochigen Armen aber einem hübsche Kindergesicht ist er die perfekte Marionette. Vater meint zwar immer Schmidtchen Schleicher und er kichert dabei, aber Niklas weiß nicht was das zu bedeuten hat.

      David liegt auf der Decke vor dem Bett. Er hat sich aller Kleidung entledigt und es riecht nach Pisse im Zimmer, wie Niklas stöhnend bemerkt.

      »Komm, David, es gibt Abendbrot.« Niklas greift nach Hose und Pulli, die verstreut im Zimmer herumliegen. Das Malheur entgeht ihm nicht. In die Küche zurück ruft er: »Mensch Mama, warum lässt du ihn nicht wenigstens aufs Klo gehen?«

      Es dauert, ehe Birthe Brock begreift, was der Junge sagt.

      »Hat das Miststück wieder eingepinkelt?«

      »Na ja …«

      »Dann bleibt er, wo er ist. Ich will hier am Tisch keinen Gestank. «

      David hört die Worte der Frau, die gar nicht seine Mutter sein kann. Mütter lieben ihre Kinder, das hat Tante Ursel gesagt, als diese Menschen vor ihm standen, mit versteinerten Gesichtern, mit unruhigen Händen und fahrigen Blicken, und die ihn wegholten von Tante Ursel.

      Bockig

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