David - Die Grausamkeit des Unterlassens. Maxi Hill

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David - Die Grausamkeit des Unterlassens - Maxi Hill

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style="font-size:15px;">      Schweren Herzens nimmt sie das Kind an der Hand und geht bis zum Treppenabsatz mit ihm. Dann nimmt sie in abstoßender Langsamkeit jede einzelne Stufen, zählt von eins an vorwärts, doch das Kind beteiligt sich nicht daran, wie ihre Kinder es früher getan haben; gerne sogar und froh darüber, dass sie schon etwas konnten, was die Erwachsenen auch nicht anders beherrschten.

      Sie weiß nicht, ob sie in der letzten Minute ein einziges Mal geatmet hat. Hinter der Tür der Brocks noch immer Rumor, undeutlich, aber man spürt, dass es nicht die Sorge um das abwesende Kind sein kann. Die Klingel aus Plastik ist verkrustet von unzähligen Kinderhänden. Eigentlich könnte sie läuten und gehen, aber David steht so stocksteif da, als würde er ihr sofort folgen. Vorsichtig, als will man sich eines Bestimmten vergewissern, öffnet sich die Tür einen Spalt.

      »Nicht schimpfen, Frau Brock. David war bei mir. Er saß … auf der Treppe und da dachte ich …«

      Birthe Brock hat rote, verquollene Augen. Ein einziger Gedanke durchfährt Ellen: Vielleicht hat sie doch schon geweint um ihr Kind.

      Nach einem kurzen Moment des wortlosen Messens zweier grundverschiedener Frauen reißt die Mutter dem Kind den Schokoriegel aus der Hand. Mit eben der gleichen Heftigkeit faucht sie zu Ellen: »Das tut ihm nicht gut. «

      »Warum? Was hat er denn? «

      Ihr scheint es, als ob die Frau zuerst erschrickt, dann angestrengt überlegt. Ellen ist sich seit Langem nicht schlüssig, ob ihr Urteil über die Familie noch gerecht ist. Verfärbt von der Tusche, mit der Frau Hedel das Familienbild malt, ist es allemal. Gerade in diesem Moment kann Ellen nachempfinden, warum man in der Nachbarschaft so viel Unverständnis für diese Familie zeigt. Vielleicht unschlüssig, sich einer Fremden anzuvertrauen, vielleicht aber auch garstig, weil die Fremde ihrem Kind mehr Gutes tun kann als sie selbst, platzt Birthe Brock heraus und es klingt nicht gut in Ellens Ohren: »Er ist zuckerkrank. «

      Sie weiß, dass es bei einem so kleinen Kind möglich ist, wenn auch selten, und es ist mal wieder so weit, dass sie mit sich ins Gericht geht, mit niemandem sonst. Noch später, als sie längst in ihre Arbeit vertieft am Computer sitzt, steht das Bild des blassen Kindes neben ihr. Sie kann es überall sehen. An den Wänden. Auf dem Boden. Sogar zwischen den zerstückelten Wolken auf ihrem Computerbild erscheint das verstörende Bild des Kindes, das kaum ein richtiges Wort zustanden bringt, das kaum die Kraft aufbringen kann, die Stufen zu steigen, das dennoch einen herzerwärmend dankbaren Blick zu senden in der Lage ist. Aber dass es schon älter als vier, beinahe fünf Jahre sein soll, will sie nicht glauben. Zu gerne hätte sie mit der Mutter geredet, dagegen spricht ihre eigene Devise von den Worten, die wie Gewehre den Verlust deines Ichs retten oder dein Ego töten.

      Birthe Brock gelang allein durch Gesten schon letzteres und doch ist ihr Ego durch eine Erkenntnis gestärkt: David ist krank. Diese Nachricht brennt Scham in ihr Gewissen. Was kann man aus Unwissenheit nicht alles falsch machen, auch als reifer, wissender Mensch. Dass sie nicht alles weiß, bedrückt sie nicht. Heute kann man jedes Defizit des Wissens unkompliziert ausmerzen. Zuerst sucht sie im Netz nach Diabetes bei Kindern. Noch einmal soll ihr nicht ein so eklatanter Fehler passieren.

      Großes Drama im kleinen Körper, liest sie die erstbeste Überschrift, und ihr Gewissen möchte aufschreien. Hat das Kind immer Durst, muss es oft zur Toilette und verliert es an Gewicht? … Fünfundzwanzigtausend Kinder in Deutschland sind betroffen … Zwei Auslöser sind die Schuldigen – Gene und Viren. … Masern, Mumps und Röteln können die Körperabwehr in die Irre leiten … Der Überschuss an Zucker im Blut entzieht dem Körper Wasser … Je süßer das Blut, desto mehr Urin scheiden die Nieren aus … die Zellen können die Energie nicht nutzen … die Kleinen werden müde, schlapp und lustlos.

      Obwohl der Junge die ganze Zeit über nicht einmal zur Toilette musste und obwohl sie den typischen Aceton-Geruch des Atems nicht feststellen konnte, von dem sie gerade liest, macht sie sich große Vorwürfe. Nach weiteren Zeilen, die sie angestrengt in sich aufsaugt, wird ihre Sorge zuerst noch größer: Wird die Diabetes zu spät festgestellt, gleitet das Kind schlimmstenfalls ins Koma.

      Ellen atmet auf: Zum Glück hat die Familie bei all ihren Problemen die Krankheit von David erkannt. Warum aber hat sie keine Anzeichen von Injektionen gesehen? Das wäre die normale Therapie, wie sie jetzt weiß. Auf alles hat sie freilich nicht geachtet, aber das nächste Mal wird sie David nur zum Spielen zu sich nehmen, zum Vorlesen, das hat ihm sehr gefallen.

      Nur einmal noch kommt David zu Ellen Herold; zwei Wochen später und ganz von selbst. Danach halten die Eltern das Kind endgültig von ihr fern. So gesehen ist es doch sehr verantwortungsbewusst. Nicht jeder Mensch weiß mit einem so kranken Kind richtig umzugehen und erklären konnte sie es sich schließlich nicht. Die Chance hat ihr die Mutter mit ihrer heftigen Reaktion gar nicht gegeben …

      Verzweifelt

      Der Morgen des 5. Januar ist bitter kalt. David ist in der Nacht wieder lange in der Wohnung herumgewandert. Er weiß, dass es seine Eltern stört und dass Mutter ihn deswegen schon oft ans Bett gefesselt hat. Mit dem Bademantelgürtel. Heute war er nicht zum Kühlschrank gewandert und hat nach Essbarem gesucht. Hunger hat er seit Langem nicht mehr. Er ist aufgeregt. Niklas hat gestern gesagt: David, du hast morgen Geburtstag. Fünf, hat er gesagt und die Finger einer Hand gespreizt. Das also sind fünf Finger. David betrachtet seine Hand. Sie zittert, aber nicht weil er traurig ist, überall gesucht aber keine Überraschung gefunden zu haben. Seine Hand zittert, weil es hier am Fenster noch kälter ist und weil die Fenster weiß angefroren sind. Ein weißer Streifen ist über Nacht von unten nach oben gewachsen, oben mit einem Muster wie die Wiese im Sommer, nur so weiß wie der Schnee, der unten auf dem Gehweg liegt und auf der Wiese vor der Mauer, wo er manchmal mit kleinen Steinchen gespielt und schöne Muster gelegt hat. Zu gerne würde er mit anderen Kindern den kleinen Hügel herunter rodeln, aber er darf nicht aus dem Haus und den Schlitten bekommen sowieso seine kleinen Schwestern Chrissi und Moni. Falk und Susi bekommen ihn auch nicht. Sie sollen mit ihren Klassenkameraden rodeln gehen, sagt Papa.

      Vielleicht bekommt er ja heute etwas ganz Schönes. Ein Skatbord, noch schöner wäre ein kleines Fahrrad. Wenn er doch nur nicht so müde wäre.

      Die Großen sind noch nicht aufgestanden. Seine Beine zittern und ihm ist schlecht. Er legt sich noch einmal unter die Decke, aber besser wird ihm bei seiner Aufregung nicht.

      Als er wieder wach wird, sind die Betten seiner Schwestern leer. Auch in der Küche ist niemand. David läuft wankend mit blanken Füßen in alle Zimmer. Niklas und Sven und auch Falk und Susi sind wahrscheinlich schon zur Schule. Vater und Mutter sind sicherlich mit den beiden Mädchen unterwegs. Dann fällt ihm etwas ein: Sein Platz am Tisch in der Küche!

      Schon von der Tür her sieht er – nichts. Keine Kerze steht auf seinem Platz, kein Kuchen oder ein noch so kleines Geschenk mit einer Schleife liegt dort, wo er gewöhnlich sitzt, wenn er mal mit am Tisch sitzt. Seine Lippen ziehen sich breit, als ihm der beste Gedanke kommt, der ihm je gekommen ist. Sie sind irgendwo, wo sie das Geschenk für ihn holen. Dazu braucht Mutter den Vater. So ein Fahrrad ist ziemlich schwer. Es ist ihm unheimlich, so allein in der Wohnung. Im Heim hätten die Kinder jetzt für ihn gesungen und eine Kerze angezündet.

      Soll er heimlich hoch zur Frau Herold gehen? Am liebsten würde er, aber Mutter hat ΄s verboten. Vater hat zwar gesagt, was er dort bekommt, braucht sie ihm nicht zu kaufen, aber er hat es ihm auch nicht erlaubt. Und vielleicht hat sein Bruder Sven Recht? Vielleicht wollen die Herolds nur spionieren, um den Eltern die Hexe vom Jugendamt auf den Pelz zu schicken. Und dann müsse er wieder in das Heim zu wildfremden Menschen.

      Für David ist das gar kein so übler Gedanke. Er huscht zurück ins Bett, der einzige Ort, den er für sich

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