Die Kestel Regression. Jürgen Ruhr
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Читать онлайн книгу Die Kestel Regression - Jürgen Ruhr страница 10
Der nächste Tag begann schon direkt unangenehm. Er bereitete in der Küche wieder die Teller mit Wurst und Käse vor, als aus dem Speiseraum das Gekreische der alten Frau, die ständig etwas zu meckern hatte, drang. Tobias nannte sie im Stillen ‚die Querulantin‘ und überlegte schon, wie man sie unauffällig zur Ruhe bringen konnte. Doch er war sich klar darüber, dass man ihn beobachtete und er sich keine Fehler erlauben durfte. Dr. Friesgart würde ihn schneller, als er denken konnte, wieder in die Klinik zurückbringen.
Mila rauschte an ihm vorbei und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie wischte verstohlen einige Tränen fort und atmete einmal tief durch. „Ich könnte die Alte umbringen“, meinte sie dann leise und mit vor Zorn bebender Stimme. „Die schikaniert uns ständig. Jetzt will sie Salz haben, obwohl es nichts gibt, wofür sie das brauchen könnte. Kein Ei, nichts. Aber so ist sie nun mal. Tobias, sei so gut und bring du ihr einen Salzstreuer. Oben in dem Schrank dort findest du Pfeffer und Salz.“
„In Ordnung“, nickte Tobias. Er wusste, wo sich das Salz befand und nahm einen kleinen, gläsernen Streuer, der randvoll neben einem Pfefferstreuer stand. Dann eilte er in den Speiseraum, wo die Alte immer noch lautstark vor sich hin schimpfte. „Bitte sehr“, meinte Tobias und hielt ihr den Streuer hin. „Ihr Salz.“
Die Frau schlug ihm das Gefäß aus der Hand. „Jetzt brauch ich dat nich mehr“, grollte sie. „Jetz issest auch zu spät.“
Tobias hob den Salzstreuer auf, der zum Glück nicht zerbrochen war.
„Aber den Teller hier, den kannste mitnehmen“, fuhr ihn die Alte an und hielt den Teller mit Wurst und Käse hoch. Tobias sah, dass davon noch nichts gegessen worden war. „Nun mach schon un steh da nich so doof rum!“
Tobias steckte den Salzstreuer in die Hosentasche und griff nach dem Teller, bevor die Frau ihn auf den Boden fallen lassen konnte. Dann beeilte er sich, zurück in die Küche zu kommen.
„Und wofür hat sie das Salz gewollt?“, fragte ihn Mila, die immer noch auf dem Stuhl saß.
„Für nichts. Jetzt sei es zu spät, sagte sie“, erklärte Tobias. „Die ist wirklich schrecklich!“
Am späten Nachmittag rief Mila ihn wieder zu Hilfe, damit sie die alte Frau mit dem Dekubitus erneut zusammen auf die Seite drehen konnten. Wieder roch es in dem Zimmer penetrant nach Verwesung und Tod und Tobias atmete tief durch. Wie sehr er diesen Geruch doch liebte!
„Ja, der Gestank ist schlimm. Irgendein Trottel hat auch noch das Fenster geschlossen.“ Mila öffnete das Fenster und sog durch den Spalt die frische Luft von draußen ein. Tobias hätte ihr fast gesagt, sie solle das Fenster doch ruhig geschlossen lassen, hielt sich dann aber zurück.
Während Mila die Wunde wieder reinigte, betrachtet er das Loch am Gesäß der Frau eingehend. Schwarzes, totes Gewebe wurde von entzündetem, rötlichem Fleisch umschlossen. „Verursacht das starke Schmerzen?“, fragte er Mila.
„Unter Umständen schon“, entgegnete sie. „Hier siehst du“, sie zeigte auf das Fleisch. „Das Schwarze ist totes Gewebe, da spürt sie nichts. Aber dort, dort und dort ist alles entzündet. Da muss man vorsichtig sein, denn das kann schon furchtbare Schmerzen verursachen.“ Sie blickte Tobias mit einem kleinen Lächeln an: „Du hast wirklich Interesse an der Altenpflege, was? Ich finde, das ist ein schöner Beruf. Du kannst den Menschen helfen und erfährst viel Dankbarkeit. Nicht alle sind so, wie unsere Freundin aus dem Speisesaal. Leider sind wir ständig unterbesetzt und dadurch überlastet. Aber das haben die Politiker schon vor vielen, vielen Jahren mit ihren unbedachten Reformen verbockt.“ Sie seufzte laut. „Und wer will solch einen Job noch machen? Wochenenddienste, an freien Tagen einspringen, weil wieder einmal jemand ‚krank‘ geworden ist und dazu noch eine mehr als dürftige Bezahlung. Aber die Herren Politiker verdienen ja genug und lassen sich im Alter privat pflegen.“ Sie deckte die Wunde ab und hielt Tobias dann eine Hand hin. „Gibst du mir bitte das Pflaster?“
Tobias reichte ihr die Rolle.
„Scheiße“, meinte Mila plötzlich. „Die ist ja leer. Wer um alles in der Welt legt eine leere Rolle zurück in die Schublade? Tobias kannst du einen Moment alleine bei der Frau bleiben, ich hole schnell eine neue Rolle.“
„Kein Problem. Ich passe auf sie auf.“
Mila warf ihm noch einen aufmunternden Blick zu und verließ rasch das Zimmer.
Tobias blickte ihr hinterher, bis sich die Türe schloss. Er hatte nicht viel Zeit und mit wenigen Handgriffen zog er die Kompresse von der Wunde. Er merkte sich genau die Position, wie sie dort gelegen hatte. Dann ballte er eine Faust und steckte sie in das Loch. Die Frau stöhnte gequält auf und Tobias bewegte seine Hand hin und her. Dann fiel ihm etwas ein und er zog die Hand zurück. Rasch nahm er den Salzstreuer aus seiner Hosentasche, entfernte den Deckel und beugte sich über die Wunde. Mit einem fröhlichen Grinsen schüttete er das Salz in die Wunde, hauptsächlich auf das entzündete Fleisch. Die alte Frau stöhnte lauter, was in ein ständiges Jammern überging. Tobias steckte den Salzstreuer rasch ein und legte Verbände und Kompresse wieder an ihren Platz zurück. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und Mila kam herein. Als sie das Jammern hörte, kam sie rasch zum Bett. „Was ist los? Ist irgendetwas passiert, warum jammert die Frau so?“
„Keine Ahnung“, log Tobias. „Bis vor wenigen Sekunden war sie noch ruhig. Vielleicht liegt sie schon zu lange auf dem Bauch ...“
Mila verklebte die Kompresse sorgfältig. „Derjenige, der die leere Rolle in die Schublade gelegt hat, der wird von mir etwas zu hören bekommen. Das ist unverantwortlich! Komm, drehen wir die Frau wieder um.“
Tobias Kestel bekam das Wochenende frei und musste die Tage zusammen mit Dr. Friesgart in der Wohnung verbringen. Er war froh, als es endlich wieder Montag wurde und er aus der kleinen Wohnung und der Obhut des Arztes herauskam. Auf der Station erfuhr er dann, dass die alte Frau mit dem Dekubitus in der Nacht zum Samstag unter starken Schmerzen gestorben war.
„Das tut mir so leid“, beteuerte er Mila gegenüber. „Wie konnte das geschehen?“
„Sie war alt und hatte ein schwaches Herz. So ist das halt, die Leute sterben. Aber es ist traurig, denn es war eine sehr nette Frau. Als es ihr noch besser ging, half sie uns oft in der Küche und hatte für jeden ein freundliches Wort übrig. Ich habe sie sehr gemocht.“
4. Die Kriminalpolizei
Kriminalhauptkommissar Richard Ucker blickte auf, als an seine offene Bürotür geklopft wurde. Ucker war vor neun Jahren in dieses Präsidium im Herzen Kölns versetzt worden und fühlte sich hier von Anfang an sehr wohl. Die Kollegen waren durchweg nett, die Zusammenarbeit hervorragend und die Kollegin, die er damals der Sitte abgeworben hatte, stellte sich als absoluter Glücksgriff heraus. Das kleine Büro, das er von seinem Vorgänger - der in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war - übernommen hatte, wurde schon bald für sie beide zu klein, als er und die Kollegin Vanessa Rensen gemeinsam in ein Büro zogen. So dauerte es auch nicht lange und sie bekamen dieses Büro hier.
Ucker blickte auf die Wanduhr, als ein uniformierter Polizist an seinen Schreibtisch trat. Vanessa Rensen befand sich sicher noch in der Kantine, schließlich war es Mittagszeit. Er selbst musste noch dringend einige Papiere durchsehen und sich heute mit einem Butterbrot und dem obligatorischen Apfel begnügen. ‚An apple a day keeps the doctor away‘, sagte Ucker immer, erntete damit aber meistens nur ungläubige Gesichter.
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