Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.
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Pünktlichkeit geht anders, dachte sie. Sie hatte erwartet, das Shuttle schon wartend vorzufinden.
»Reg dich nicht auf«, murmelte sie vor sich hin und wunderte sich, dass sie Selbstgespräche führte. In dem Moment meinte sie, einen Lichtschein auf der Straße hinter dem Bahnhofsgebäude auszumachen. Ein Lichtkegel näherte sich. Sekunden später hielt ein weißer Mercedes Bus neben ihr.
Auf der Seite stand in großen geschwungenen Lettern ‚Kurklinik Sachsenglück‘. Das Motorengeräusch erstarb und die Fahrertür wurde aufgerissen. Ein Mann mit einer blauen Schirmmütze eilte um das Auto herum. Atemlos, als wäre er den ganzen Weg gelaufen, baute er sich vor ihr auf und meinte: »Sie müssen Frau Doktor Pütz sein, stimmt‘s?«
Seinen Tonfall identifizierte sie als eindeutig sächsisch. Die Mütze ähnelte den viel zu ausladenden Schirmmützen der russischen Armee.
»Ja, das stimmt.«
»Entschuldigen Sie die Verspätung vielmals.« Er verbeugte sich tief.
»Ist schon gut, ich bin in diesem Augenblick erst angekommen.«
Die Verzweiflung im Gesicht des Mannes schien echt zu sein. Nach ein paar Tagen in der Klinik würde sie nachvollziehen können, warum der Mann so ergeben war. Aber im Moment war sie eher nur überrascht. Blitzschnell verstaute er ihre beiden Trolleys im Kofferraum und öffnete die seitliche Schiebetür. Wieder mit einer tiefen Verbeugung.
Schweigend fuhren sie die zwei Kilometer vom Bahnhof bis in den Ort hinein. Es war Ende November, einige Gärten und viele Fenster waren mit Weihnachtsschmuck dekoriert. Durch ihren Aufenthalt im Krankenhaus war es ihr gar nicht bewusst, dass die Adventszeit begonnen hatte. Auch in den letzten Jahren war die Vorweihnachtszeit an ihr vorbei gegangen. Wenn sie sich richtig erinnerte, dann war in den letzten Jahren nie wirklich Zeit für Besinnlichkeit gewesen.
Hätte sie Besinnlichkeit haben wollen? Hatte sie etwas vermisst? Nun, eigentlich nicht. Aber dieses Jahr würde sie sehr wahrscheinlich eine volle Dosis davon abbekommen. In beinahe jedem Vorgarten stand mindestens eine erleuchtete Figur. Manche hatten sogar mehrere aufgestellt. Nachbarschaftlicher Wettstreit. So oder so entlockte ihr das ein Schmunzeln.
In ihrem Haus, das sie noch im letzten Jahr zusammen mit ihrem Ex-Ehemann bewohnt hatte, kannte man diese Art des Gartenschmuckes nicht. Dort hätte man das eher hochnäsig belächelt. In ihrer Frankfurter Etagenwohnung gab es keinen Garten.
Während sie noch darüber nachdachte, ob sie sich einen Weihnachtsbaum gekauft hätte, fuhr das Shuttle auf einen imposanten Weihnachtsbaum zu. Selbst im Vergleich mit Frankfurt, wo es in der Fußgängerzone einige große Bäume gab, hätte dieser hier wahrhaftig gut abgeschnitten. Als wäre die Größe nicht schon überwältigend genug, so tauchten tausende von Lämpchen den Baum in ein Lichtermeer. Der Innenraum des Shuttles wurde im Vorbeifahren hell erleuchtet.
»Ja, das ist der ganze Stolz von Frau Doktor«, brach der Fahrer sein Schweigen. Carola lächelte ihn an. Der gigantische Baum war also der erste Vorbote der Kurklinik ‚Sachsenglück‘.
Der Kies knirschte unter den Reifen, als das Shuttle um eine großflächige Blumenrabatte herumfuhr. Wie in einem hochherrschaftlichen Schloss, dachte sie. Vor der breiten Freitreppe, die hinauf zur Eingangstür führte, bremste der Fahrer sanft ab. Er stieg aus, ging in Windeseile um sein Auto herum und öffnete die Schiebetür. Er hielt ihr die Hand hin, doch sie schaffte es, alleine auszusteigen. Schiebetüre schließen und den Kofferraum öffnen waren geübte Handgriffe. Schon hatte er die beiden Trolleys ausgeladen und schob die Haltebügel zusammen, um sie tragen zu können. Ihr Angebot, ihm einen der beiden Koffer abzunehmen, lehnte er ab. Er hüpfte mit den beiden schweren Koffern die Treppenstufen hinauf, als wären sie leicht wie Federn. Oben angekommen stellte er einen der Koffer ab, um ihr einen Türflügel zu öffnen. Carola blieb vor der mächtigen, alten Holztür stehen. Das war sie also, die ‚Kurklinik Sachsenglück‘. Ihr Domizil für die nächsten Wochen, sie trat ein. Der erste Eindruck war überwältigend. Ihre Augen flogen über die Wände, kletterten die Treppenstufen hinauf, hielten an den geschwungenen Simsen inne. Überall gab es Augenfutter. Sie konnte es aber genießen, das war der Unterschied. Nicht wie sonst, wenn sie zwanghaft Dinge zählen musste. Nein, hier war es eher wie ein inneres Jauchzen.
Schau dir das an, schien sie zu sich selbst zu sagen.
Wie schön.
Der monströse Weihnachtsbaum war ihr schon wie ein Relikt aus einer längst vergessenen dekorativen Vergangenheit vorgekommen. Aber diese üppige Jugendstildekoration in der Eingangshalle wirkte um vieles prachtvoller.
Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass bereits die ganze Zeit jemand mit einem freundlichen Lächeln hinter dem Tresen stand und auf sie wartete. Sicher, sie musste ja noch einchecken.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »aber solche Pracht hätte ich nicht erwartet. Ich bin beeindruckt. Carola Pütz ist mein Name.« Auf dem Messingschild, das auf dem Tresen stand, war der Name Edith Kramke zu lesen.
»Guten Abend, Willkommen in unserem Haus, Frau Doktor Pütz«, sagte Frau Kramke lächelnd, »Freut mich, wenn es Ihnen gefällt. Wir sind eines der Häuser am Ort, die eine durchgängige Jugendstilprägung haben. Darauf sind wir auch sehr stolz.«
Der Satz fiel ihr aus dem Mund, als würde sie ihn täglich mehrere Male so zitieren. Sie reichte Carola den Anmeldebogen und einen Kugelschreiber.
»Bitte.«
»Danke.«
»Sie werden morgen früh Ihren Therapieplan erhalten. Falls Sie ein Abendessen zu sich nehmen wollen, ab achtzehn Uhr ist der Speisesaal geöffnet. Sie brauchen nur nebenan durch die Tür zu gehen.«
Sie zeigte auf eine feingliedrig geschwungene Doppeltür, über der mit Jugendstil-Lettern ‚Speisesaal‘ geschrieben stand.
»Sehr gerne, danke.«
Ihr Blick wanderte bereits wieder durch den Raum. Gut, in einer Woche ist das alles normal für dich. Dann gehst du daran vorbei und nimmst es nicht mehr wahr, dachte sie.
Keine Viertelstunde später stand sie in ihrem Zimmer. Es bestand aus einem einzigen Raum von der gefühlten Größe eines halben Fußballplatzes und dazu ein ebenso großzügig bemessenes Badezimmer. Das Zimmer schien so weitläufig wie zwei Zimmer in ihrer Frankfurter Wohnung zusammengenommen. Sie fragte sich sofort, ob die Größe des Zimmers etwas mit ihrem Doktortitel zu tun hatte. Sie hätte den Pagen gerne gefragt, der ihr die Koffer aufs Zimmer gebracht hatte, doch der war schon wieder verschwunden.
Hellrosa und weiß waren die vorherrschenden Farben. Die Tapete hinter dem weißen Bett war hellrosa mit einem Wellenmuster in Silber. Modern akzentuiert trat eine vorgesetzte Wand auf doppelter Breite des Bettes hervor. Eine dahinter installierte indirekte Beleuchtung tauchte das Zimmer in ein gemütliches Dämmerlicht. Das waren aber nicht die einzigen Lichtquellen im Raum. Rechts und links neben der Tür zum Bad hielten zwei possierliche Figürchen jeweils eine kleine Lampe mit einem hauchdünnen Porzellanschirmchen. Über dem ebenfalls weißen Tischchen hing ein verspielter Lüster.