Carola Pütz - Verlorene Seelen. Michael Wagner J.
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Die beiden Frauen guckten sich betreten an.
»Ich werde Ihr Verhalten an oberster Stelle melden«, sagte Lara Kaiser. Ihre Freundin, die kleine Zornesfalte, erschien zwischen den Äugelchen.
»Ich freue mich darauf«, antwortete Carola frostig.
Sie beschloss spontan, die beiden Frauen zu ignorieren. Die Catcherin stieß ein pfeifendes Geräusch aus, als wolle sie irgendeine Art von Überdruck loswerden. Ein munteres Brabbeln begleitete die beiden Frauen, als sie verschwanden und verwandelte sich in ein zischendes Tuscheln, je weiter sie sich vom Tisch entfernten.
Carola überlegte kurz, warum wohl die Catcherin mit an ihren Tisch gekommen war. Doch der Gedanke hielt sich nicht lange. Mit beschleunigtem Herzschlag kam auch die alte Gewohnheit wieder. Schleichend. Altbekannt. Solche Situationen taten ihr nicht gut. Sie zählte die Lampen an der Decke, die Tische, die Fenster, die Vorhänge, die Tische, auf denen das Essen stand, und die Gäste, die sich nun zahlreicher im Raum verteilten.
Du bist noch lange nicht über den Berg, dachte sie. Sollte sie die Mediziner über ihren Zählzwang informieren? Sie sollte es tun. Mit einem unguten Gefühl in ihrem hämmernden Herz kehrte Carola in ihr Zimmer zurück. Um neun Uhr hatte sie ihren ersten Termin bei Prof. Dr. Ralf Wielpütz, dem Leiter der Klinik. Bis kurz vor dem Termin lag sie auf dem weichen Teppich in ihrem Badezimmer. Die Türe geschlossen, das Licht gelöscht. Dunkelheit. Frieden.
*
»Dreihunderttausend. So viele Menschen sterben jährlich allein in den alten Bundesländern an einem Herzinfarkt.« Prof. Dr. Wielpütz ließ die Zahl im Raum schweben. »Das sind achthundertdreiundzwanzig pro Tag«, ergänzte er.
»So viel Glück wie Sie haben nicht viele, Frau Kollegin«, sagte er mit seiner Katzenstimme.
Ungewohnt. Carola konnte sich nicht daran gewöhnen, dass man ihr als Ärztin Ratschläge gab.
»Ja, das habe ich wohl gehabt«, antwortete sie kleinlaut.
Prof. Wielpütz schaute über den Rand seiner Brille.
»Ich weiß aus meiner langjährigen Praxis, dass gerade die Kollegen sich damit sehr schwertun, solche Dinge zu akzeptieren«, sagte er.
Sie schwieg. Er hatte sicherlich recht.
»Wissen Sie, ich kann das ja auch alles nachvollziehen. Man steht mitten im Job, ist erfolgreich und dann kommt so ein blödes Herz daher und macht einem einen Strich durch die Rechnung. Das kann man nicht akzeptieren. Und deshalb ist die Rückfallquote bei Medizinern auch so hoch.«
Er legte seinen Aktenordner vor sich auf den Tisch und ergänzte: »Die Letalitätsrate ebenfalls.«
»Was soll ich sagen«, begann Pütz, »ich liebe meinen Beruf und die Aussicht, nie mehr als Forensikerin arbeiten zu können, macht mir Angst. Ich denke, dass Sie darüber Bescheid wissen, Herr Professor.«
»Ja, ich kenne Ihre Akte. Ich kenne Ihren Ruf als Forensikerin, und ich kann Ihre Ängste außerordentlich gut nachvollziehen. Solch ein Beruf ist mit keiner anderen Tätigkeit zu vergleichen. Darin liegt aber auch die Gefahr begründet, wissen Sie?«
Carola hob den Kopf, sie hatte einen Entschluss gefasst.
»Ja, Professor, ich weiß es. Ich muss Ihnen noch etwas mitteilen, was sicher nicht in Ihrem Bericht steht.«
Er hob die Augenbrauen.
»Ich leide seit einem Jahr unter Arithmomanie. Ich bin deswegen auch in psychotherapeutischer Behandlung. Der Herzinfarkt steht meiner Meinung nach in einem kausalen Verhältnis zu dem letzten großen Schub, den ich erlitten habe.«
»Das hätten Sie den Kollegen in Bonn mitteilen müssen. Sie haben ein Jahr lang weiter gearbeitet? Mit einer solchen Bedrohung im Rücken?«, fragte er. Die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ja, ich habe es geheim gehalten.«
»Was bei so einer Haltung herauskommen kann, haben Sie ja nun erlebt«, sagte er.
»Ja, sicher. Das war ein Fehler.«
»Sei‘s drum«, sagte er, »Wer Fehler in der Lebensführung ändern will, muss sie erst erkennen. Ich denke, das haben Sie getan, Frau Kollegin.«
»Ja, ich denke, das habe ich. Deshalb bin ich ja nun auch hier«, sagte sie und es wurde ihr bewusst, dass sie die letzten drei Sätze mit einer Bejahung begonnen hatte. Eine Seltenheit bei ihr.
Prof. Wielpütz stand auf und trat ans Fenster.
»Wir haben hier in Bad Elster eine Klinik, die sich auf die neuesten Erkenntnisse der internationalen Therapien bei Herzinfarkten beruft. Früher war es so, dass man den Patienten gesagt hat, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Mensch ist aber heutzutage aufgeklärter. Er schaut Fernsehen, informiert sich im Internet. Deshalb ist das so wie früher nicht mehr machbar. Ich bin auch kein Mann, der sich auf seinen weißen Kittel beruft.« Den letzten Satz nuschelte er und machte eine zappelige Bewegung mit der rechten Hand.
Er machte eine Pause und schenkte sich ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein. Er trank einen Schluck, bot ihr ebenfalls ein Glas Wasser an, sie nahm es dankbar.
»Das Leben danach bedarf des Beistandes. Der Umgang mit der Erkrankung will gelernt sein. Wer Fehler in der Lebensführung vermeiden will, muss diese erst erkennen. Partnerschaftliche Therapie und Hilfe auf dem Weg zur Eigenverantwortung sind deshalb Leitgedanken einer Rehabilitationsmaßnahme. Nicht anordnen, überzeugen ist angesagt, im Rahmen einer Kur. Diäten verlieren dann auch schnell ihren Schrecken«, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen.
Lara Kaiser hatte gepetzt. Das erkannte Carola an diesem Lächeln. Doch schien ihn das nicht wirklich zu stören.
Sie antwortete mit einem vielsagenden Schmunzeln.
»Frau Doktor, ich brauche bei Ihnen sicher nicht bei A anfangen. Sie sind Medizinerin, selbst wenn Ihre Tätigkeit ganz woanders ansetzt. Wir arbeiten nach einem Vierpunkte-Plan. Lassen Sie mich Ihnen erklären, was wir in den nächsten Wochen mit Ihnen vorhaben. Ich zähle dabei auf ihre vollständige Kooperation.«
In den nächsten Minuten erläuterte ihr Professor Wielpütz die Inhalte des Plans.
»Es gibt vier grundlegende Elemente der kardiologischen Rehabilitation«, begann Wielpütz seinen Vortrag.
»Der somatische Bereich umfasst das körperliche Training, die medikamentöse Therapie und die medizinische Überwachung der Patienten.«
Er machte eine kurze Pause, als erwartete er eine Frage von Dr. Pütz.
Die blieb jedoch aus.
»Der edukative Bereich beinhaltet Informationen zu einer nachhaltigen Lebensstiländerung. Durch Gruppenvorträge, krankheitsspezifische Schulungen und Einzelgespräche erhält der Patient alle Informationen, die er benötigt. Bei Ernährungsschulungen ist es sinnvoll, nahe Angehörige zu integrieren«, sagte er, »hier haben Sie aber jetzt sicher eine Frage, Frau Doktor, oder?«
Sie