Thiemos Bande. Frank Springer

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Thiemos Bande - Frank Springer

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noch pünktlich zum Klingelton betrat Thiemo den Klassenraum. Alle anderen Schüler saßen dort bereits auf ihren Plätzen, nur von Merle war nichts zu sehen. Auch seine Klassenlehrerin, bei der er jetzt Unterricht haben sollte, war noch nicht da. Thiemo setzte sich gelassen auf seinen Platz und wartete mit den anderen. Dabei wagte er nicht, sich nach Emilio, Axel oder Mirko umzusehen, sondern verhielt sich möglichst unauffällig. Es war unruhig in der Klasse. Jungen schwatzten und Mädchen tuschelten.

      Viele der Mädchen in Thiemos Klasse gehörten zu der verhassten Mädchenclique, die Thiemo mit seiner Bande bekämpfte. Unter ihnen befanden sich die beiden Anführerinnen der Clique Laetitia und Felicitas. Sie nahmen dieses Amt gemeinsam wahr, da sie Zwillingsschwestern waren und sowieso alles gemeinsam taten. Die beiden waren fürchterlich reich und wurden jeden Morgen in einer Luxuslimousine mit einem Chauffeur zur Schule gebracht und nachmittags abgeholt. Ihren Eltern gehörte in der Stadt ein großes Kaufhaus, in dem ausschließlich teure Luxusartikel verkauft wurden. Der Treffpunkt der Mädchenclique befand sich in der Villa ihrer Eltern, in der es einen riesigen Partykeller gab, in dem die Mädchen zusammenkamen. Bis dorthin hatte sich allerdings noch keiner der Jungen vorgewagt.

      Äußerlich konnte die Zwillingsmädchen keiner auseinanderhalten, da sie völlig gleich aussahen. Darüber hinaus zogen sich Laetitia und Felicitas immer gleich an, was eine Unterscheidung anhand ihrer Bekleidung unmöglich machte. Dabei kleideten sie sich ausschließlich in rosa Farbtönen. Nur manchmal zogen die beiden zur Abwechslung etwas in Pink an. Es gab Behauptungen, dass sogar ihre Unterwäsche rosa war, aber die hatte noch keiner der Jungen zu Gesicht bekommen, sodass dies ein Gerücht blieb, das sich hartnäckig hielt. Meistens trugen die Zwillingsschwestern rosafarbene Kleidchen und hatten ihre langen, blonden Locken mit rosa Schleifchen gebunden oder mit rosa Haarreifen zurückgesteckt. Da sie ohnehin nicht zu unterscheiden waren, machte sich keiner von den Jungen die Mühe, sie Laetitia oder Felicitas zu nennen, sondern bezeichneten sie nur als die beiden Rosas.

      Bisher fand es Thiemo schlimm, dass er gegen zwei Anführerinnen antreten musste, wenn er etwas gegen die Mädchenclique unternehmen wollte. Seitdem Ludwig nicht mehr da war, fing er an, die beiden zu beneiden. Sie konnten sich austauschen und beraten, so wie er es früher mit Ludwig gemacht hatte. Nun war Thiemo im Gegensatz zu den Zwillingsmädchen auf sich alleine gestellt. Einen Denkfehler beging Thiemo dabei, den er allerdings nicht bemerkte. Laetitia und Felicitas waren sich vom Typ her nicht nur sehr ähnlich, sondern vollkommen gleich und sie verfügten meist über das gleiche Wissen, weshalb sie sich kaum gegenseitig ergänzen konnten, so wie Ludwig ihn früher unterstützt hatte. Das aber nahm Thiemo in seiner Trauer und Wut nicht wahr.

      In seiner Klasse gab es ein Mädchen, das Thiemo besonders hasste. Das war Dörte Schröter. Mit zwei Ö im Namen, so wie eines davon in blöd vorkommt, sozusagen doppelblöd. Sie kam aus eher einfachen Verhältnissen und lebte zusammen mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in einer engen Wohnung in einem Mietblock. Ihr Vater hatte die Familie vor langer Zeit verlassen und ihre Mutter musste ihr Studium abbrechen, damit sie sich um ihre Kinder kümmern konnte. Seitdem arbeitete sie als Kassiererin in einem Supermarkt und verdiente kaum ausreichend Geld für die Familie. Aus diesem Grund konnte sich Dörte keine teure Modekleidung leisten, sondern kaufte ihre Sachen im Billigmarkt.

      Trotzdem versuchte sie Laetitia und Felicitas in allem nachzueifern. Dörte kleidete sich ebenfalls ausschließlich in Rosa und tat alles, um den Zwillingsschwestern zu gefallen. Dabei passte Rosa überhaupt nicht zu ihren leuchtendroten Haaren. Die Farben bissen sich richtig. Das war ihr jedoch gleichgültig, solange sie glaubte, damit ihre beiden Vorbilder beeindrucken zu können. Dafür nutzten die Zwillingsmädchen sie kräftig aus und ließen sie allerlei niedrige Tätigkeiten erledigen. Außerdem machten sich die zwei hinter ihrem Rücken und manchmal sogar ganz offensichtlich über sie lustig. Das alles schien Dörte nichts auszumachen und sie versuchte, sich immer wieder aufs Neue bei den beiden Rosas einzuschmeicheln. Thiemo fand dieses Verhalten widerwärtig. Auch wenn er Laetitia und Felicitas nicht mochte, so empfand er immerhin eine gewisse Achtung und Respekt für sie, da sie Gegner für ihn waren, mit denen er sich messen konnte. Dörte hingegen verachtete er und behandelte sie mit Abscheu. Aber nicht nur Thiemo hasste sie. Alle anderen Jungen und die meisten Mädchen empfanden genauso.

      Die anderen Mädchen in der Klasse fielen nicht übermäßig auf, außer dass sie sich mehr oder weniger in Rosa kleideten wie ihre beiden Anführerinnen. Daher beachtete Thiemo sie nicht weiter.

      Als Klassenlehrerin war Frau Rührstedt meist lieb und nett. Nur wenn es Ärger gab, dann konnte sie ausgesprochen streng werden. Deswegen vermieden ihre Schüler, so gut es ging, irgendwelchen Ärger mit ihr. Sonst war sie äußerst pünktlich. Es musste also einen guten Grund geben, weshalb sie sich verspätete. Nach fünf Minuten betrat Frau Rührstedt endlich den Klassenraum und brachte den Grund für ihre Verspätung gleich mit. Einen Schritt hinter ihr kam Merle zur Tür herein.

       „Guten Morgen, Kinder“, sprach die Klassenlehrerin voller Schwung in der Stimme.

       Ein vielstimmiges „Guten Morgen, Frau Rührstedt“ schallte ihr entgegen.

       Die Lehrerin fuhr fort: „Entschuldigt bitte meine Verspätung. Ich habe euch jemanden mitgebracht. Das hier ist Merle Baumann, eure neue Mitschülerin.“

      Thiemo hätte sie fast nicht wiedererkannt, denn Merle sah bezaubernd aus. Sie trug ein knielanges, einfach geschnittenes Kleid mit buntem Blümchenmuster und dazu knöchelhohe, offene Sandalen. Um ihr Haar hatte sie sich ein buntes Stirnband gebunden. Bei dem ganzen Rosa im Klassenraum hätte Thiemo niemals geglaubt, dass Mädchen so hübsch aussehen können. Er war gänzlich beeindruck von Merles Farbenpracht. Es fiel selbst ihm auf, dass er sie die ganze Zeit anstarrte.

      Frau Rührstedt schaute sich im Klassenraum um und sagte dann zu Merle: „Am besten setzt du dich zunächst zu Thiemo. Neben ihm ist noch ein Platz frei. Wir werden dann später weitersehen, wie wir dich endgültig hier unterbringen.“

       Der Platz neben Thiemo war tatsächlich noch frei. Es war Ludwigs Platz gewesen. Hier hatte er neben Thiemo gesessen, bevor er weggezogen ist. Merle setzte sich auf den freien Stuhl und stellte ihre Schultasche unter den Tisch.

       Dann stieß sie Thiemo leicht mit ihrem Ellbogen an und sagte leise: „Hallo Nachbar, so sieht man sich wieder.“

       Dabei lächelte sie ihr wundervolles Lächeln.

       Thiemo erwiderte ebenso leise: „Hallo, schön das du da bist.“

      Der Unterricht begann damit, dass die Schüler still einen Abschnitt aus einem Schulbuch lesen und im Anschluss darüber diskutieren sollten.

       Frau Rührstedt wandte sich an Thiemo: „Merle hat noch keine Bücher. Die muss sie sich erst beschaffen. Bitte, Thiemo, sei so nett und lass Merle mit in dein Buch schauen.“

       Nichts tat Thiemo in diesem Moment lieber als das. Er schlug sein Buch auf und legte es mitten zwischen Merle und sich auf den Tisch. Dann fingen beide an, leise für sich den Text zu lesen. Dazu verfolgten sie mit ihren Zeigefingern die Zeilen, wobei sie mit ihren Fingerspitzen ein richtiges Wettrennen auf dem Papier veranstaltete. Ab und zu kicherten die beiden laut los, wenn sich ihre Finger überholten oder berührten, sodass sie mehrfach von ihrer Lehrerin energisch zur Ordnung gerufen werden mussten. Das störte Thiemo jedoch nicht im Geringsten. Für ihn war es die schönste Schulstunde seines Lebens, seitdem Ludwig fortgezogen war.

      In der Pause nach dieser Stunde blieb die Klasse im Raum, da es keine Hofpause war. Die beiden Rosas kamen gefolgt von Dörte auf Merle zu und musterten sie gründlich.

       Nachdem die drei ihre neue Mitschülerin eine Weile lang von Kopf bis Fuß betrachtet hatten, schaute die eine Rosa sie herablassend an und meinte zu ihr: „Wie siehst du denn aus? Bis du etwa eine Öko-Tussi?“.

      

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