Thiemos Bande. Frank Springer
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Merle entgegnete freundlich: „Magst du nicht hereinkommen? Wir können uns drinnen besser unterhalten.“
Thiemo konnte zwar durch die Tür hindurch ihr Gesicht nicht sehen, aber er spürte, dass sie lächelte. Er war glücklich, dass sie wieder lächeln konnte.
„Ja, gerne“, erwiderte Emilio und trat ein. Thiemo hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss.
Thiemo wollte abwarten, bis Emilio wieder aus Merles Wohnung herauskam. Währenddessen stand er hinter seiner Tür und passte auf. Nach über einer Stunde war es endlich soweit.
,Was hat Emilio so lange bei Merle gemacht?‘, fragte sich Thiemo und belauschte die beiden.
Emilio verabschiedete sich von Merle: „Bis morgen.“
„Ja, bis morgen, Emilio“, entgegnete Merle.
Die beiden klangen dabei sehr vertraut miteinander. Thiemo hörte, wie Emilio die Treppe hinunterging und Merle die Tür schloss. Er zog sich daraufhin in sein Zimmer zurück und wollte niemanden mehr sehen.
5. Der Überfall
Als Thiemo am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, saß Merle neben Emilio. Auf den freien Platz neben Thiemo hatte sich Bertram der Klassenstreber gesetzt, den keiner von seinen Mitschülern mochte. Aber Thiemo störte das nicht. Im Gegenteil war er froh, dass er großen Abstand zu seinen ehemaligen Bandenmitgliedern und zu Merle hatte, denn dadurch wurde er möglichst wenig an seine Niederlage erinnert. Thiemo sprach in den nächsten Tagen so gut wie gar nicht mit irgendjemandem. Selbst mit Thorben wechselte er nur die allernotwendigsten Worte. Dafür fiel ihm auf, dass sich Merle meist in der Nähe von Emilio aufhielt und er auch ihre Nähe suchte. Von Thiemo hingegen hielt sich Merle fern. Sie ging ihm aus dem Weg. Obwohl sie den gleichen Schulweg hatten, vermied Merle es, ihn gemeinsam mit Thiemo zu gehen.
Zwei Tage später stieg Thiemo in Gedanken versunken die Treppe hinauf. Er hatte gerade einige Utensilien für die Schule eingekauft und kam nach Hause, als Merle auf dem Treppenabsatz zwischen zwei Stockwerken unerwartet vor ihm stand. Sofort drückte sie sich ängstlich in eine Ecke und hielt ihre Arme schützend vor ihren Körper.
Mit angstvoll zitternder Stimme sagte sie zu Thiemo: „Bitte tu mir nichts. Geh weg! Ich fürchte mich vor dir.“
Thiemo entgegnete: „Du brauchst doch vor mir keine Angst zu haben. Ich tue dir nichts.“
Das Mädchen antwortete: „Ich glaube dir kein Wort.“
Thiemo wollte ihr noch etwas Versöhnliches zur Beruhigung sagen, aber ihm fiel nichts ein und er ging wortlos an ihr vorbei. Nachdem er sie passiert hatte, lief Merle schnell die Treppe hinunter, als wenn sie vor ihm fliehen wollte. Thiemo hatte ein schlechtes Gewissen. Er wollte nicht, dass Merle vor ihm Angst hatte. Er musste erneut schmerzlich einsehen, dass er alles zunichte gemacht hatte, was zwischen ihr und ihm gewesen war. Thiemo fühlte sich traurig und einsam.
So verging fast eine ganze Woche, ohne dass Thiemo jemanden hatte, mit dem er sprechen mochte. Mit seinen Eltern hätte er zwar sprechen können, aber die hatten keine Ahnung davon, wie es ihm ging. Schließlich überwand er sich und sprach mit seinem Bruder. Thorben erzählte ihm, dass sich die Bande nur noch selten traf und dass sie kaum noch gemeinsam etwas unternahmen. Außerdem berichtete er, dass Emilio meist mit Merle zusammen war. Es machte Thiemo noch trauriger, dass die Bande durch seinen Fehler auseinanderzufallen drohte. Immerhin hatte er die bekannteste und berüchtigtste Jungenbande im gesamten Viertel gegründet und war stolz darauf. Auch wenn er nicht mehr dazu gehörte, sollte wenigsten die Bande weiter bestehen bleiben.
Die einzigen, die Thiemo noch mit gewissem Respekt behandelten, waren die Mädchen aus der Clique. Wenn es auch nur der Respekt war, der Feinden gegenüber gezeigt wurde, so genoss Thiemo diesen kleinen Rest seines Ansehens. Offenbar hatte die Mädchenclique bislang nicht bemerkt, wie es um Thiemo stand. Das war insofern nicht weiter verwunderlich, da sämtliche Unternehmungen der Jungenbande vor den Mädchen abgeschirmt im Verborgenen stattfanden. Solange die Jungen keine Aktionen gegen die Mädchenclique durchführten, konnte sich Emilio auch nicht als ihr neuer Anführer hervortun. Die Mädchen wunderten sich vermutlich, dass sie in der letzten Zeit von der Jungenbande nicht mehr geärgert wurden.
An einem der folgenden Nachmittage hatte Thiemo einige Bücher in die Bücherei zurückgebracht, die er sich über die Ferien ausgeliehen hatte und die seitdem mehrfach angemahnt worden waren. Es waren Detektivgeschichten, die er für sein Leben gerne las. Die Sonne schien und es war warm. Um dieses Wetter zu genießen, nahm Thiemo den Rückweg durch den großen Park, der mitten im Viertel lag. Außerdem war dies eine kleine Abkürzung. Obwohl der Park schön angelegt war, waren zu dieser Zeit kaum Besucher unterwegs. Wahrscheinlich mussten die meisten Leute noch arbeiteten. Thiemo hatte es nicht eilig, weil er ohnehin nichts mehr an diesem Tag vorhatte außer Hausaufgaben. Die konnten aber warten, da er keine große Lust verspürte, sie zu erledigen.
Thiemo schlenderte gemütlich den Parkweg entlang und schaute verträumt den Eichhörnchen nach, die flink auf den Bäumen und Büschen herumkletterten und verspielt hin und her huschten, als unerwartet etwas in seine Augen stach. Thiemo wollte sich abwenden, da ihm der Anblick unangenehm war. Zwischen dem ganzen Grün tauchte eine Farbe auf, die eindeutig nicht hierher gehörte und die ihn zutiefst anekelte. Etwa zwanzig Meter vor ihm bog von einem Seitenweg Dörte auf seinen Weg ein. Wie immer war sie gänzlich in Rosa gekleidet. Sie trug einen kurzen Minirock in kräftigem Rosa, ein zartrosa Top mit einem lila Herzen auf der Brust und dazu ein Paar pinkfarbene Sneaker, die auffallend neu aussahen. Darüber leuchtete in krassem Kontrast ihr roter Schopf. Allein der Anblick dieser Farben erregte Thiemos Würgereiz. Das Mädchen ging vor ihm her und hatte ihn noch nicht bemerkt oder tat zumindest so. Vermutlich kam Dörte gerade von einem Treffen der Mädchenclique und befand sich auf dem Heimweg.
In Thiemo stieg der Hass auf dieses Mädchen auf. Er verachtete Dörte dafür, wie sie immerzu vor den beiden Rosas herumkroch, um sich bei ihnen anzubiedern und einzuschmeicheln. Dabei machten die Zwillingsmädchen sich lustig über sie und sahen überheblich auf sie herab. Es war für Thiemo unverständlich, dass ein Mensch sich so weit selbst aufgeben und erniedrigen konnte, um anderen zu gefallen. Er war fest davon überzeugt, dass man so einen Menschen hassen musste. In Gedanken malte Thiemo sich aus, was Dörte alles Schlimmes zustoßen könnte. Die Erde könnte sich auftun und sie verschlucken, ohne dass eine Spur von ihr übrig blieb. Oder ein Blitz aus heiterem Himmel könnte sie auf der Stelle erschlagen.
Thiemos finstere Fantasien wurden immer lebhafter, als er sich bildhaft vorstellte, was mit Dörte Schreckliches geschehen könnte. Niemals hätte er im Entferntesten geahnt, dass seine üblen Verwünschungen wahr werden könnten. Doch dann geschah es. Überraschend traten seitlich aus einem Gebüsch neben dem Weg eine Junge und ein Mädchen hervor und stellte sich vor Dörte auf. Thiemo kannte die beiden flüchtig vom Sehen. Sie wohnten am Rande des Stadtteils in einem großen, schäbigen Wohnblock. Der Junge war etwa ein Jahr älter als Thiemo und hatte einen kräftigen, gedrungenen Körper, während das Mädchen ungefähr elf Jahre alt war und ähnlich kräftig wirkte. Die Kleidung der beiden war abgetragen und verschlissen. Sie trugen ausgeleierte Jogginghosen und verwaschene T-Shirts. Dörte blieb vor Schreck stehen und schaute die beiden angstvoll an.
Mit grober Stimme sagte der Junge: „Schau mal an. Was haben wir den hier? Ein Paar nagelneue Schuhe für meine kleine Schwester. Los Bea, schau mal, ob sie dir passen!“
Dabei zeigte er auf die Sneaker von Dörte.