Elbland. Elmar Zinke
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Richter wirkte nachdenklich, unterbreite Wagner seinen Vorschlag zögerlich: „So Sie Ihrer bisherigen Forschungsarbeit die Treue halten, nutzen Sie doch gern weiter unser Archiv. Was im Übrigen keinen Rechtsbruch beinhaltet. Sie unterliegen keinem strikten Hausverbot und das Archiv steht jedem Bürger offen.“
Wagner führte nachdenklich das erste Mal seine Kaffeetasse zum Mund, fragte: „Was geschieht mit Ariane?“
„Für sie finden wir eine ebenbürtige Beschäftigung“, versicherte ihm Richter.
„Mich erfüllt eine inständige Bitte, Herr Professor“, zeigte sich Wagners Stimme geradezu flehentlich: „Ich versprach Feldmann, dem Fahrer des Barons, dass Ariane sich während der Dienstzeit um seine schwer kranke Frau kümmert. Feldmanns Zwischentöne klangen eindeutig. Es besteht bei ihr Suizidgefahr. Ariane steht dieser Nebenarbeit offen gegenüber. Sie ist ein guter Mensch.“
„Auch für dieses Anliegen finden wir eine Lösung.“
Am Schreibtisch überflog Wagner die Termine dieser Woche, den Stapel unerledigter Briefe, die lange Liste offener E-Mails. Was bedeutet ´sofort`?, dachte er vor sich. Heißt das, zehn Jahre enden von einem Augenblick zum anderen? Ein Ende, schlagartig herbeigeführt wie durch einen Verkehrsunfall, einen Blitzschlag, die Patrone aus einer fremden Waffe?
In den Schreibtischfächern stellte er einen auffälligen Mangel privater Gegenstände fest, in der Hauptsache beschränkte sich das Persönliche auf sieben Modelle von DDR-Fahrzeugen. Wagner strich über einen Miniwartburg Dreihundertdreiundfünfzig und dachte, Sieglinde schenkte mir jedes Jahr zum Geburtstag ein Einzelstück dieser Art. Im Überreichen der ersten Gabe äußerte sie den Wunsch eines gerechten Urteils der Geschichtsschreibung über die DDR. Gerecht nicht zuletzt im Sinne des Verzeihens und Vergebens. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, aber wahrscheinlich blieb ich stumm. Gerechtigkeit in der Geschichtsschreibung, wahrlich, auch ein weites Feld. Aber…
Wagners Handy meldete sich mit dem Klingelton eines langsamen Walzers. Er sah Mons Namen auf dem Display, glitt über den grünen Punkt.
„Hallo meine Schöne“, sagte er mit flugs gereifter Turtelstimme.
„Hallo Liebling“, hörte er ihre helle Stimme in steter Aufregung. „Wir heute Termin. Du mich nicht vergessen.“
„Ich vergesse Dich nie. Aber vielleicht fällt meine Stimmung heute nicht gut aus.“
„Welche Laus über Leber laufen?“
„Ich habe gleich beim Zahnarzt einen Termin.“
„Zahnarzt. Oh weh. Ich Trost spende mit allem, was habe ich.“
Um seinen Mund spielte ein unsicheres Lächeln und er dachte, die Notlüge wächst für das Leben als Heilpflanze. Wenngleich sie ausschaut wie eine Missgeburt.
Der Tag sandte am späten Nachmittag eine angenehme Milde aus. In den Außenbereichen der Boulevardcafés blieb kein Stuhl unbesetzt, die Umrandung des Jungfrauenbrunnens beschlagnahmten zumeist Jugendliche mit schwarzen Jacken aus Kunstleder, dunklen Markenjeans und südländischem Erscheinungsbild. Zwei junge Frauen mittendrin hielten ihre Augen hinter Sonnenbrillen geschlossen, ihre derben Gesichter kanteten sie ins Horizontale. Männliche Anzüglichkeiten durch Worte, Pfiffe und Gejohle straften sie durch Nichtachtung.
Falters Praxis mit hochmodernen Gerätschaften befand sich unweit des Domplatzes in einem Haus, dessen nüchterne Hässlichkeit im Angesicht der Nachbarschaft nicht auffiel. Trotz eines vollen Wartezimmers rief die Sprechstundenschwester Wagner als nächsten Patienten auf, auch Wagners untätige Liegezeit auf dem Behandlungsstuhl mit anatomisch geformter Sitzfläche hielt sich in Grenzen. Falter bohrte seinem Patienten zur Begrüßung den Zeigefinger in den Oberarm, das Vorgeplänkel beschränkte er auf das Übliche zwischen zwei Männern mit der gemeinsamen Schulzeit als einziges wesentliches Bindeglied.
Als Falter ein warmes Gemisch aus Wasser und Reinigungssalz in Wagners Gebiss sprühte, fragte er durch seine Mundschutzmaske: „Was meinst Du, wer macht am Sonntag das Rennen?“
In Anwesenheit der Gerätschaften im Mund brummte Wagner schwer Deutbares. Der Aufforderung zum Wasserspülen kam er mit Erleichterung nach, herauslaufender Speichel nötigte ihn zum mehrmaligen Spucken in das untertassenkleine Edelstahlbecken.
„Keine Ahnung“, holte Wagner seine Antwort nach.
Falter polierte mit einer rotierenden Minibürste ausgiebig die Zahnoberflächen, behandelte das Gebiss mit Fluoridlack.
Mit dem Unterton des Nichtwahrhabenwollens sagte er: „Sag mal, stimmt es, dass Heilmann, der Spitzenkandidat der Deutschalternativen, Dein bester Freund ist?“
Wagner sandte vermehrt Brummtöne aus, schlitzte die Augen. Das Endausspülen der Mundhöhle beanspruchte zwei Wassergläser, dankbar empfing Wagner eine Handvoll Kosmetiktücher zum Mundabwischen.
„Marcus Heilmann ist, was kaum einer weiß, Herausgeber des Elblandboten“, wich Wagner der Frage aus. „Maßgeblich ihm verdanke ich, dass mir die Zeitung für mein Schreibbedürfnis im Grunde jeden Platz einräumt.“
Falter streifte die Maske ab, lächelte schief im Vorgefühl eines kleinen Sieges: „Gut zu wissen. Gerade mit Blick auf diese Personalunion besitzt die Sonntagsfrage, die das Blatt gestern verbreitete, einen bitteren Beigeschmack. Sag das Deinem Freund. Diese Zahlen quasi aus seinem Mund stuft der mündige Bürger als billige Meinungsmasche ein.“
„Ich sehe ihn frühestens am Wahlsonntag.“
Im Freien hörte Wagner sechs wuchtige Schläge der Domuhr, atmete die herbe Frische seines Mundgeruches. Erstmalig nahm er Notiz von den jungen Ausländern am Brunnen, die das Frauenpaar im gesitteten Abstand umringten, Handybilder schossen. Das achtlose Vorbeilaufen einer Fußstreife der Polizei stärkte Wagners Glauben einer nicht bedrohlichen Grundstimmung. Am Bratwurststand kaufte er eine Boulette mit Brötchen, zahlte für die dreifache Portion Senf einen Zusatzbetrag, ließ sich in Hörnähe der jungen Flüchtlinge nieder. Eine Ansammlung zweitrangiger Fragen beherrschte ihn, bis Mon vor sein geistiges Auge trat. Sein Glied rückte von seiner Ruhestellung ab, eine Hochstimmung erfasste ihn. Sie ist göttlich schön, dachte er und vergegenwärtigte sich die Zeit.
In den zehn Minuten Wartezeit bis zum Miteinander versank er in maßvolle Verbitterung. Die Neuauflage dieser Grausamkeit erspart mir hoffentlich meine Vernunft, dachte er und ohne die Möglichkeit einer Gegenwehr tischte ihm die Erinnerung auf, dass er zwei Jahre zuvor vorzeitig läutete. Die Hauseingangstür gab von innen nach, bevor der Einlasssummer ertönte. Ein stämmiger Mann in Zimmermannsmontur und mit winzigen kreisrunden Ohrringen grinste ihn frech an, in seiner Augenhöhe bog er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand kreisrund, der linke Zeigefinger stach unentwegt in das Luftloch. Arbeit im Stundentakt, wiederholte Wagner das damals Gedachte. Sie ist nicht nur schön für mich.
Als Mons Haustür in greifbarer Nähe aufging, schreckte er furchtsam zusammen, die heraustretende Frau mit einer Einkaufstasche und einer Gehhilfe würdigte ihn keines Blickes. Wagner huschte durch die Tür, horchte an Mons Wohnungstür, die Wahrnehmung völliger Stille beruhigte ihn sichtlich.
Die schmalgesichtige Frau erschien im schwarzen ärmellosen Kleid, dessen vorderer Spalt die Seide über die gesamte Brusthöhe teilte.