Elbland. Elmar Zinke
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Die Chinesen, alle um die Fünfzig, lächelten feinsinnig mit reichlich Kopfnicken, spendeten höflichen Beifall. Während des Rundganges erwiesen sie sich als wache und dankbare Zuhörer, Wagners lobenswertes Englisch tat sein Übriges für bleibende Eindrücke. Zur menschengroßen Bronzestatur, Wagners Lieblingsort in seiner Arbeitsstelle, stieß die Gruppe nach einer halben Stunde.
Wagner legte den Säbel auf die Schulter der Figur, redete sich ins Leidenschaftliche: „Nach der Katastrophe von Achtzehnsechs, dem Triumph Frankreichs über Preußen,
marschierten alsbald erste Truppenteile des Siegers durch unser Land und sorgten für Angst und Schrecken. Allerdings strahlte auch Licht in jener Zeit, denn das französische Recht beschnitt die angestammten Privilegien der Gutsherrschaft in drastischer Weise. Dennoch begingen die Menschen Frankreichs Niederlage im Russlandfeldzug mit einem Freudenfest. Sodann schlug hierzulande die Stunde Null der Gebote Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Baron stürzte im Alkoholrausch von der Freitreppe und brach sich das Genick. Am Tage seiner Bestattung in der Gruft der ewig Schlafenden packten Freiheitsgeister das Zepter und riefen die Republik Elbland aus. Das Volk jubelte dem Neuen zu und die bisherigen Machthaber leisteten keinen nennenswerten Widerstand. Die Traumrealität einer Volksgemeinschaft im löblichen Sinne währte drei Jahre. Zerstörung erfuhr diese Staatsform nicht von außen, den Einmarsch von Truppen aus Berlin, sondern durch höhere Umstände. Eine Missernte folgte der anderen, die Menschen litten unter Hunger und Mangel, Verteilungskämpfe brachen aus. Und von außerhalb ereilte keine Hilfe. Die Republik Elbland schwappte zurück in ein Land voller Unzulänglichkeiten, wenngleich auch zuvor nicht ausschließlich Harmonie und Eintracht, all die guten Tugenden göttlicher Schöpfung, herrschten. Hoffnungslos uneins waren sich die Akteure im Bleiberecht für Neuankömmlinge, die zunehmend scharenweise aus halb Europa eintrafen. Der eine, nun ja, rechte Parteiflügel stempelte sie als zusätzliche Mäuler ab, die sozusagen Parteilinken hießen sie indessen als Aufbauhelfer mit eigenen Ideen willkommen.“
Wagner dankte ohne übertriebene Höflichkeit für das geduldige Zuhören, die Entgegnungen der Gäste aus Fernost fielen einheitlich aus. Jeder der Vier zollte Wagner ehrlichen Beifall, das Lächeln drang zunehmend aus lebendigen Gesichtern. Wagner entging die feine Veränderung der Chinesen, begleitete sie bis zum Wagen. Der Fahrer, ein Chinese, sprang heraus, riss sämtliche Türen auf. Ein tiefes Verbeugen paarte ein jedes Hinsetzen auf die cremefarbenen Lederbezüge, Wagners Winken erwies den Gästen das letzte Geleit.
Im Vorgefühl einer kleinen Schwäche wählte Wagner für seine Verschnaufpause die Treppenstufen des Museumseinganges, rauchte mit langen Zügen eine filterlose Zigarette. Eine Schulklasse der benachbarten Gesamtschule schlenderte vorüber, einige Mädchen schnitten Grimmassen.
Die Lehrerin in Wagners Alter rief ihm fröhlich entgegen: „Das ist der Lauf der Menschheit, Herr Doktor. Zuerst erschuf der Mensch seine Kleidung und seitdem erschafft die Kleidung den Menschen.“
Wagner lüftete vor Anerkennung seinen Hut, umgehend reichte er ihn samt Säbel und Portepee der Frau hinter der Kassenscheibe zur Aufbewahrung. Fast pünktlich eilte er zur Druckerei, die Robert Müller als beruflicher Quereinsteiger führte. Über Wasser hielt er seine Firma mit der Methode, Schwarzgeschäfte in Eigenkapitalspritzen zu wandeln. Wagner wünschte die neue Museumsbroschüre quadratisch, geheftet und mit Reliefdruck, beide Seiten erlangten rasch Handelseinigkeit, für das Museum als Großkunde forderte Wagner keine ruinösen Sonderpreise ein.
Ein mausgrauer Elbsegler aus Schurwolle und Kaschmir staffierte den Chauffeur des Barons als ständiges Erkennungsmerkmal aus, an der Vorderseite der Mütze prangte in Zweieurogröße das Wismerksche Familienwappen. Erwin Feldmann wohnte in Wagners Straße, erwartete seinen Fahrgast vor dem Museum. Feldmann arbeitete einst als Traktorist in der landwirtschaftlichen Produk-tionsgenossenschaft, im Dienst seines heutigen Arbeitgebers verzehrte er sich seit der Jahrhundertwende. Die Folgen eines unverschuldeten Verkehrsunfalls banden seine Frau Rosemarie an den Rollstuhl, mühsam blendete er diese Schicksalstragödie aus. In Wagners Sichtnähe fing Feldmann mit dem Herbeiwinken an.
„Der Rest der Uniform liegt schon im Auto“, rief er dem Fahrgast zu. „Ihre Kollegin war so freundlich.“
Wagner pflanzte sich auf den Beifahrersitz, Feldmann lenkte das Auto bedächtig durch Straßen im Zustand von Flickschusterei.
„Wie geht es Ihrer Frau?“, fragte Wagner zwischendurch.
„Danke der Nachfrage. Ehrlich gesagt, sie verlässt kaum noch die Wohnung und leider schmerzen ihr die Augen beim Lesen immer mehr. All diese Einschränkungen fördern nicht gerade ihren Lebensmut.“
Im Zustand von Bedrücktheit sagte Wagner: „Wissen Sie was? Ab morgen besucht Ariane, meine Praktikantin, jeden Tag Ihre Gattin. Liest ihr die Zeitung vor oder ein Buch und fährt sie ein wenig durch die frische Luft. Ariane verfügt über diesen Freiraum, weil ihr die Arbeit leicht von der Hand geht. Ich nenne zudem eine dienstrechtlich freie Hand mein Eigen.“
Voller Rührung entgegnete Feldmann: „Es mag abgedroschen klingen, Herr Doktor. Vielleicht rettet Eure gute Tat meiner Frau das Leben.“
Das Wismerkanwesen untergliederte sich in eine Vielzahl von Gebäuden. Schiefer deckte sämtliche Dächer, ein einheitlicher Neigungswinkel zeichnete sie zudem aus. Gauben durchbrachen sie mannigfach, die Fassaden bestachen ausnahmslos in kirschrot und blütenweiß. Das Herrenhaus umfasste einen Mittelbau und vier Anbauten, zwei Flügel gingen zur Hofseite, auch die gartenseitig zwei Turmpavillons schmückten die hauseigene Postkarte. Freitreppen aus Sandstein führten zum gepflasterten Hof und zum parkähnlichen Garten. Mit dem Baumbestand von Birken und Buchen, künstlich angelegten Teichen sowie einer Vielzahl verwitterter Skulpturen weitete sich das Gelände über nahezu sechs Hektar, ein namenloser Bach markierte die längste natürliche Grenze.
Der Fahrzeugmix der handverlesenen Gästeschar engte die Dorfstraße ein bis zu den ersten, zumeist abgeernteten Feldern, Girlanden überspannten den gesamten Schlosshof, die weißen Tischdecken der Stehtische hingen weit in die Tiefe. Wagners Aufzug erntete zu gleichen Teilen Aufmerksamkeit und Nichtbeachtung. Der Ankömmling suchte zielgerichtet den Hausherrn, schüttelte gelegentlich eine Hand, sichtete ihn im Beisein der Gattin Eleonore. Sie entstammte einem dänischen Adelsgeschlecht, nannte begrenzte Besitztümer in der alten Heimat ihr Eigen, bewirtschaftete sie in streng ökologischer Ausrichtung. Landrat Erwin Radwerk und Oberbürgermeister Burkhard Ständer vervollständigten ein Stehquartett.
Wismerk überragte seine Gesprächspartner um mindestens eine Kopfhälfte, das Alter von fünfundsiebzig Jahren drängte nirgendwo zum Vorschein. Zum leicht ergrauten Igelschnitt gesellten sich ein unentwegt forscher Blick, extrem dunkle Augen, ein vorspringendes Kinn und eine feinporige Haut.
Der Hausherr begrüßte Wagner mit Handschlag und Schulterklopfen, rief froh gestimmt: „Ein preußischer Offizier ist hier immer ein gern gesehener Gast. Im Gegensatz zum Franzos. Oder diesen deutschen Vaterlandsverrätern.“
Wagner setzte die Begrüßung mit einem gehauchten Kuss auf den Glacéhandschuh der Baronin fort, die Verbliebenen am Tisch streckten Wagner mechanisch die Hände entgegen.
„Schade, dass Sie, Verehrtester, meine Rede versäumten“, wandte sich Wismerk erneut Wagner zu. „Ich stimmte darin ein Hohelied auf Ihre Person an, auf das, was Sie mit Ihrer exzellenten Öffentlichkeitsarbeit für meine Familie leisten. Dieser ganz vorzügliche Artikel in der Frankfurter Allgemeinen vor wenigen Tagen aus gegebenem Anlass setzt Ihrer Arbeit die Krone auf. Seitdem treffen zuhauf Busladungen aus dem ganzen Bundesgebiet ein.“
„Da klingelt die Kasse“, warf Ständer