Wolfskinder. Klaus Melcher
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Sie hatte keinen eigenen Willen.
Sie verließen die Bahnhofhalle, wandten sich nach rechts, und Müller bezahlte seine Parkgebühren.
Jetzt könnte sie weglaufen. Er brauchte beide Hände und musste sie loslassen. Warum blieb sie an seiner Seite stehen? Er könnte sie nicht verfolgen, ohne sich zu verraten. Die im Schalter würden sicher die Polizei rufen. Sie hätte ein anständiges Essen gehabt. Das wäre alles gewesen.
Warum tat sie das nicht? Wartete, bis er bezahlt hatte, würde zu ihm ins Auto steigen, mit in seine Wohnung fahren?
Das Auto, vor dem sie Halt machten, entsprach in keiner Weise ihren Vorstellungen von einem Mann, der Minderjährige verführte, denn verführen wollte er sie ganz offensichtlich. Der alte R 4, der auf einem der Frauenparkplätze stand, war verrostet und verbeult. Der Lack hatte nur noch eine matte Farbe, die an verschiedenen Stellen mit Dekoblumen überklebt war.
Müller sah das Erstaunen in den Augen des Mädchens.
Als wollte er um Entschuldigung bitten, hob er die Hände, zeigte auf das Gefährt und sagte bedauernd: „Tut mir Leid, mit was Besserem kann ich nicht dienen.“
Dann schloss er auf, setzte sich auf den Fahrersitz und öffnete die Beifahrertür.
Die Fahrt verlief still. Niemand sagte auch nur ein Wort.
Ab und zu warf Müller einen kurzen Blick zu seiner Nachbarin, und sie musterte ihn erst heimlich, dann immer offener.
Sie fuhren Richtung Linden, über die Benno-Ohnesorg-Brücke, rechts ragte der gigantische Klotz des Ihme-Zentrums auf.
Die Gegend war dem Mädchen vertraut.
Früher hatte sie hier häufig ihre Nachmittage verbracht, auch schon mal ganze Tage oder Nächte. Hier gab es Ecken, in die niemand kam, in denen man sich einrichten konnte.
Aber man konnte nur in der Clique überleben. Alleine oder nur mit ein, zwei Freunden war das zu gefährlich. Wenn sie alleine durch die dunklen Gänge ging, vorbei an eingetretenen Türen, an all dem Müll, der herumlag, wenn die vielen Bauzäune jeden Fluchtweg versperrten, dann hatte sie Angst.
Als dann auch noch der Sicherheitsdienst kam, da war es aus.
Und jetzt steuerte der Fremde einen Garagenplatz in der Tiefgarage an, stoppte den Wagen und forderte sie auf, auszusteigen.
Wieder fasste er ihren Oberarm und führte sie durch eine eiserne Tür, eine verdreckte, nach Urin stinkende Treppe hoch, bis sie auf dem Ihmeplatz standen. Weiter ging es innerhalb einer Absperrung um die nächste größere Ecke, die früher mal zu einer Buchhandlung gehört hatte, und sie standen vor einer ehemals rot lackierten Tür mit großem Glasausschnitt.
Unendlich viele Klingelknöpfe verrieten die gleiche Zahl von Bewohnern, aber sicher konnte man sich da nicht sein.
Müller bemerkte die zunehmende Beklemmung, die seine Begleiterin befiel.
„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, versuchte er sie zu beruhigen und schob sie in einen der noch funktionierenden Aufzüge.
Der Aufzug hatte schon bessere Zeiten gesehen.
In den Ecken lagen zerfetzte Plastiktüten, zerknüllte Zettel, Essensreste. Und auch hier stank es nach Urin.
Müller schien das nicht zu stören, doch als er den elften Knopf drückte, wusste das Mädchen, er hatte kaum eine andere Wahl, es sei denn, er wollte die Treppen bis zum elften Stockwerk zu Fuß emporsteigen. Und das Treppenhaus sah sicher nicht besser aus als der Lift.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er, als sich der Aufzug ratternd in Bewegung gesetzt hatte.
Die Frage kam so überraschend, dass das Mädchen seine Vorsicht völlig vergaß.
„Carmen“, antwortete sie prompt und hätte sich sofort auf die Zunge beißen mögen.
Bisher war sie anonym gewesen, auch wenn sie das Gefühl hatte, wie ein offenes Buch für ihren Begleiter zu sein, der ganz nach Willkür die Seiten umblättern konnte.
Nachdem er auch ihren Namen kannte, hatte sie kein Geheimnis mehr.
„Und du?“, fragte sie unsicher.
Der Aufzug hielt in der elften Etage.
„Hier müssen wir lang“, sagte er und führte sie wieder am Oberarm den langen Gang entlang.
„Jose“, sagte er, und als Carmen ihn ungläubig ansah, „nein, nein, Heiko.“
„Warum nennst du dich Jose, wenn du Heiko heißt?“
„Und warum heißt du Carmen? Sind deine Eltern Opernfreunde?“
Sie nickte.
„Sie waren es mal, bevor mein Vater arbeitslos wurde und zu trinken begann. Da wurde alles anders.“
Sie waren vor Müllers Wohnung angelangt. Er zog sein Schlüsselbund hervor und öffnete.
Sie traten in einen kleinen fast quadratischen Flur, von dem eine Tür zum Badezimmer und eine zum Schlafzimmer führte und der sich zum Wohnzimmer mit amerikanischer Küche öffnete.
Carmen war überrascht. Sie hatte sich die Wohnungen hier im Hochhaus ganz anders vorgestellt, dunkel, kleine Fenster. Wenn sie von außen die Anlage sah, hatte sie immer gedacht, sie würde erdrückt. Jetzt war sie in einen lichtdurchfluteten Raum eingetreten, durch dessen große Fenster die Sonne schien.
„Geh ruhig weiter“, forderte Heiko sie auf und öffnete die Balkontür.
Unter ihnen lag die Ihme, ein einsamer Paddler zog unterhalb des Hauses vorbei.
Das wäre schön, dachte sie, da unten auf dem Fluss entlang zu paddeln, völlig frei zu sein!
„Zieh dich aus!“, unterbrach Müller ihre Gedanken.
Also doch! Jetzt kommt die Rechnung!
„Du willst doch nicht so – entschuldige – schmutzig bleiben. Nimm erst einmal ein warmes Bad. Und spare nicht mit Wasser und Seife. Ich lege dir Handtücher hin. Und wenn du fertig bist, suchst du dir einen Pullover oder ein Hemd von mir aus. Ich stecke erst einmal deine Klamotten in die Waschmaschine.“
Und damit schob er sie in das Badezimmer, ließ Wasser in die Wanne einlaufen, gab einen großen Schuss flüssige Seife hinzu und stellte eine Flasche Haarshampoo auf den Wannenrand.
„Nun mach schon, ich beiße nicht!“, forderte er sie auf, als sie noch zögerte.
Er schien sich nur für ihre verdreckte Kleidung zu interessieren, die er einsammelte und in die Waschmaschine stopfte. Ob die verschiedenen Teile zusammen gewaschen werden durften, ob sie alle neunzig Grad vertrugen, interessierte ihn nicht. Hier einen Unterschied zu machen, wäre Unsinn