Wolfskinder. Klaus Melcher

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Wolfskinder - Klaus Melcher

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      Carmen konnte sich nicht satt sehen, riet die Straßennamen, freute sich wie ein Kind, wenn sie richtig geraten hatte. Zählte begeistert die Lichter der Autos, die über die Benno-Ohnesorg-Brücke fuhren.

       Sie war doch noch ein Kind.

      Er ging in die Küche, und wenig später zog der herrliche Duft des gebratenen Kaninchens und des Gemüses durch das offene Fenster auf den Balkon.

       So musste es im Süden sein, wenn das Abendessen zubereitet wurde und sein Duft die ganze Gegend erfüllte, wenn der Lärm der Straße verstummte, wenn das helle Licht des Tages verblasste.

      Einige Augenblicke kramte Heiko noch in der Küche herum und kehrte mit Getränken und Gläsern zurück.

      „Was möchtest du trinken, Apfelsaft oder Wein?“, fragte er.

      Eigentlich hätte er ihr gar nicht Wein anbieten dürfen, aber manchmal machte er eine Ausnahme.

      Carmen drehte sich zu ihm um, lehnte sich gegen die Balkonbrüstung, streckte ihren Körper, dass Heiko fast Angst hatte, sie würde hinunter fallen, und reckte die Arme hoch. Sie wiegte leicht ihren Oberkörper, immer noch mit erhobenen Händen, als tanzte sie aus der Hüfte. Seidig schimmerte ihre Haut in dem Licht, das aus der Küche fiel.

      „Ist das schön!“, sagte sie und drehte sich wieder der Stadt zu.

      Das Essen, das Heiko gekocht hatte, war köstlich. Noch nie hatte Carmen Kaninchen gegessen, noch nie so ein Gemüse. Sie kannte nur die Küche ihrer Mutter, die zwar ordentlich war, aber eben nur ordentlich.

      Und sie kannte das Essen in der Mensa ihrer Schule, das manchmal schrecklich schmeckte.

      Und sie kannte die Reste auf den Papptellern im Hauptbahnhof.

      Und dazu der Rotwein, der in ihrem Kopf zu tanzen begann.

      Sie saßen noch lange beieinander auf dem Balkon, der jetzt von einer Petroleumlampe sparsam beleuchtet wurde.

      Vor zwei Jahren hatte Heiko sie auf dem Flohmarkt am Hohen Ufer erstanden und seitdem an warmen Sommerabenden regelmäßig gebraucht. Er liebte dieses Licht, das er je nach Stimmung dämpfen konnte.

      Ihr warmer Schein fiel auf Carmens Gesicht, ließ es immer mehr strahlen, je dunkler der Himmel wurde, fiel auf ihre Beine, die sie angewinkelt auf ihren Sitz gestellt hatte.

      Heiko sah sie verstohlen an, nur zufällig begegneten sich ihre Blicke. Dann lachten sie, anfangs verlegen, dann fast verschwörerisch.

      „Woran denkst du?“, fragte sie unvermittelt, nachdem sie schon eine ganze Weile geschwiegen hatten. „Möchtest du auch, dass es so bleibt?“

       Dieses Mädchen war doch kein Kind mehr. Es war eine Frau, naiv zwar, aber verführerisch.

      Heiko vermied eine Antwort, schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Er wusste, er befand sich auf verdammt dünnem Eis. Ein falsches Wort, eine falsche Geste, und es könnte brechen.

      Bisher hatte es noch nie Probleme gegeben. Die Mädchen, die er immer Klienten nannte, waren keine Gefahr für ihn gewesen. Er hatte sich nicht einmal wehren müssen.

      Nachdem sie sich sicher und geborgen und wohlig fühlten, hatte er irgendwann am späten Abend die Schlafcouch aufgeklappt und das Bett gemacht. Ohne viele Worte, und auch das misstrauischste Mädchen hatte keine Angst mehr.

      „Komm“, sagte er, „es ist spät. Du kannst mir helfen.“

      Er klappte die Schlafcouch auf, nahm das Bettzeug aus dem Kasten, gab Carmen das Kopfkissen und einen Bezug und bezog die Decke. Gemeinsam mit Carmen legte er das Laken auf, schüttelte noch einmal die Decke und das Kissen. Das Bett war fertig.

      Er ging ins Schlafzimmer, fischte ein T-Shirt aus dem Schrank und gab es ihr. Er hatte drei T-Shirts für die Mädchen, in drei verschiedenen Größen. Dieses musste passen.

      Aus einer Schublade im Badezimmerschrank zauberte er eine Einmalzahnbürste hervor und legt sie auf das Waschbecken.

      „So, nun husch ab ins Bad!“

      Kaum eine viertel Stunde dauerte es, und es war dunkel in der Wohnung. Nur im Flur brannte Licht, damit sich Carmen in der fremden Wohnung zurechtfinden konnte.

      Obgleich sie todmüde war, konnte Carmen nicht schlafen. Zu viel war heute passiert. Eben war sie noch ein Wolfskind, hatte sich mit ihrem Leben arrangiert, sich sogar auf eine gewisse Weise wohl gefühlt, hatte ihre Position in der Gruppe, die ihr niemand streitig machte. Obgleich es als cool galt, nicht gerade zimperlich mit den Mädchen umzugehen, seine derben Sprüche zu machen, hatte sie sich einen gewissen Respekt verschafft. Hatte zur richtigen Zeit gebissen.

      Von da an waren die Grenzen abgesteckt.

      Und nun war sie hier. In einer richtigen Wohnung. Nicht in einer Abstellkammer wie zu Hause. Mit einem Mann zusammen, der nicht brutal war, nicht betrunken wie ihr Vater, sondern rücksichtsvoll, einfühlsam. Der sie achtete.

      Sie war ihm nicht egal. Das spürte sie. Ihre Frage hatte er überhört.

       Natürlich hatte er das nicht, nur er hatte keine Antwort gewusst. Es gab nicht viele, die so waren.

      Er war in sein Zimmer gegangen, nachdem er ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange gegeben hatte, nur so einen hingehauchten Kuss, wie man ihn sich zur Begrüßung tausendmal gab.

      Und nun schien er zu schlafen. Kein Lichtschein drang auf den Balkon.

      Ihr Bett war gemütlich, und sie streckte sich genüsslich, ruschelte sich in die Decke. Was für ein Unterschied zu gestern, als sie ganz hinten in dem feuchten Gang ihr Lager aufgeschlagen hatte. Eine dünne Decke musste reichen, als Unterlage und zum Zudecken.

      Noch während sie versuchte, sich Klarheit über ihre Situation zu verschaffen, schlief sie ein, schlief tief und fest, bis sie irgendwann in der Nacht aufwachte.

      Der Himmel hatte sich leicht gefärbt. Das dunkle Nachtblau war heller geworden, einzelne rosa und rot gefärbte Wolken schienen am Himmel fast zu stehen. Von Ferne drangen die Geräusche der Straße nach hier oben.

      Sie drehte sich im Bett.

       Mein Gott, war das schön!

      Sie stand auf, ging auf den Balkon, sah hinab auf die noch schlafende Stadt, erlebte, wie sie langsam erwachte, Häuserzeile für Häuserzeile, wie die Beleuchtung der Straßen verlosch, die Lichtreklamen der Kaufhäuser und Geschäfte, eine nach der anderen.

      Ihre Füße wurden kalt. Sie spürte es kaum, so glücklich war sie.

       Was machte ihr Glück aus? Dass sie nicht mehr auf der Straße war? Dass sie so wunderbar geschlafen hatte? Dass sie hier in dieser Wohnung war? Dass sie umsorgt war?

       Das alles war es.

       Und doch traf es nicht.

      Noch ahnte sie es nur, als sie die Tür zu Heikos

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