Wolfskinder. Klaus Melcher
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Sie war immer noch nicht zufrieden.
Schon wollte sie aufgeben, als Jose – halb im Scherz – vorschlug, von der Länge ein ganzes Stück abzuschneiden und die Ärmel fortzunehmen.
Als Carmen endlich mit dem Ergebnis ihrer Arbeit zufrieden war, war es dunkel geworden. Das T-Shirt war gerettet, wenn auch nichts an ihm an seinen ursprünglichen Zustand erinnerte. Es erinnerte eher an einen sehr knappen Bolero, der unterhalb des Busens mit einem abgeschnittenen Stoffrest zusammengehalten wurde.
Abenteuerlich war Carmens Outfit schon, das musste Jose zugeben. Aber es war unverschämt sexy. Und wenn sie sich nicht in den Kopf setzte, so durch Hannover zu laufen, dann war er über diese Änderung nicht gerade unglücklich.
Kapitel 7
Heiko Müller hatte seinen R 4 auf dem großen Behördenparkplatz abgestellt, etwas abseits von den anderen Autos. Dass er fast regelmäßig wegen seines Autos belächelt und angefrotzelt wurde, störte ihn schon lange nicht mehr, doch heute hatte er keine Lust auf den Spott seiner Kollegen, auch wenn er nett gemeint war. Die nächsten ein, zwei Stunden würden anstrengend werden. Da mochte er vorher keine Späße.
Um kurz vor acht Uhr hatte er Buchholz zurückgerufen, um ihn zu fragen, was gestern so wichtig gewesen wäre. Er hoffte, es wäre nicht zu eilig gewesen, doch gestern hätte er beim besten Willen nicht zurückrufen können, ohne den Erfolg seiner Arbeit zu gefährden. Er wäre gerade bei einem sehr schwierigen Fall.
Es wäre schon in Ordnung, meinte Buchholz, aber er möchte doch bitte zu ihm kommen, der Chef hätte einen Bericht über die Wolfskinder verlangt, und er, Müller, wäre schließlich der Kompetenteste.
„Wissen Sie, die nackten Zahlen habe ich hier in den Akten, aber das ist nur ein dürres Gerüst.“
Müller hatte kurz überlegt und versprochen, gegen zwölf Uhr im Amt zu sein, sehr zur Erleichterung von Buchholz.
Es war nicht viel Zeit, die bis dahin blieb.
Carmen schlief noch, sie hatte gestern, begeistert von ihren Designerfähigkeiten,
etwas mehr Rotwein getrunken, als es gut für sie war, und Jose hatte sie auch nicht gebremst. Sie war so niedlich, wenn sie einen kleinen Schwips hatte, und der Wein hatte ihr so gut geschmeckt, dass Jose ihr die Freude nicht verderben wollte. Und nebenbei war es auch ganz erholsam, die Nacht durchschlafen und sich von dem anstrengenden Tag erholen zu können.
Seine erste Arbeit war das Aktivieren eines zweiten Wohnungsschlüssels.
Als er mit seiner Tätigkeit begonnen und sich entschlossen hatte, seine Klienten mit nach Hause zu nehmen, hatte er sich dieses Schließsystem besorgt, und es hatte sich bis heute bewährt. Man konnte zwar einen Nachschlüssel anfertigen, aber der nützte nichts. Er verfügte nicht über die nötige Elektronik, die erst das Öffnen und Schließen einer Tür ermöglichte.
Müller schob den Schlüssel in den dafür vorgesehenen Schlitz, gab einen Code ein und drückte die Enter-Taste. Ein kurzes Summen ertönte, während ein grünes Lämpchen leuchtete, und der Vorgang war abgeschlossen. Zur Kontrolle zog er die Tür zu, steckte den Schlüssel in das Schloss und öffnete ohne Schwierigkeit die Tür.
Als Nächstes öffnete er den Garderobenschrank und klappte ein Schuhregal zur Seite. Zum Vorschein kam ein kleiner Tresor, den er fest an der Wand verankert hatte. Nur mit sehr viel Aufwand würde man ihn entfernen oder öffnen können.
Er öffnete die Tür, entnahm ihm ein schwarzes, etwas abgegriffenes Notizbuch und steckte es in die Gesäßtasche seiner Jeans.
Dann machte er sich an das Frühstück.
Als er auch das fertig hatte, ging er ins Schlafzimmer.
Carmen schien noch immer zu schlafen. Ganz friedlich lag sie im Bett, hatte sich in ihr Kopfkissen gekuschelt. Schien etwas besonders Schönes zu träumen, denn sie lächelte im Schlaf.
Vorsichtig beugte sich Jose über die Schlafende, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben.
Sie musste seine Anwesenheit gespürt haben, denn sie drehte sich auf den Rücken, räkelte sich, gähnte herzhaft, immer noch mit geschlossenen Augen, streckte ihre Arme, und hatte auf einmal seinen Nacken gefangen, zog Jose mit einem Ruck zu sich hinab.
„Reingefallen!“, jubelte sie.
„Musst du wirklich weg?“, fragte sie, als sie wenig später beim Frühstück saßen.
„Ja“, antwortete er, „ich muss mich mal bei der Arbeit sehen lassen. Man erwartet mich in“, er sah auf seine Armbanduhr, „in zwanzig Minuten.“
„Und was soll ich machen, hier, so ganz allein?“
Sie könnte hier bleiben, Radio hören, fernsehen, ein Buch lesen. Auch aufräumen könnte sie. Der Staubsauger wäre im Besenschrank. Das Bad und die Küche könnte sie auch wischen. Zu tun gäbe es wirklich genug.
Sie könnte aber auch rausgehen, ihre neuen Klamotten ausführen. Er legte ihr einen Zehn-Euro-Schein hin.
„Für ein Eis oder einen Drink.“
Nur aufpassen sollte sie. Sicher würde sie gesucht, und irgendwer würde sie vielleicht erkennen. Sie sollte sich unbedingt merken, wo die Wohnung wäre. In diesem Gewirr könnte man sich leicht verlaufen.
Müller ging durch das breite Portal, vorbei an dem Pförtner, der ihn wie immer freundlich grüßte und auf ein kleines Schwätzchen hoffte, aber heute hatte Müller keine Zeit.
„Tut mir Leid, heute habe ich es eilig“, sagte er, machte ein bedauerndes Gesicht und war schon die breite Treppe nach oben geeilt. Auch die nächste Treppe nahm er im Eilschritt, immer zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen, wandte er sich nach rechts, durchschritt eine grau lackierte Schwingtür und gelangte am Ende des nahezu abweisenden Ganges zu Buchholz’ Zimmer.
Auf sein Klopfen antwortete ein donnerndes „Herein“, und Müller betrat den kleinen Raum.
Buchholz hatte schon eine Kanne Tee gekocht und den Besucherstuhl zurechtgerückt, obgleich ihm sein Besucher gar nicht lag und er viel dafür gegeben hätte, er hätte ihn nicht empfangen müssen. Aber er brauchte ihn, und da machte er gute Miene zum bösen Spiel.
Nur eins konnte er sich nicht verkneifen.
„Ich will Sie gar nicht lange aufhalten. Es geht um einen Bericht über die Wolfskinder, und da Sie dafür der Experte sind, habe ich Sie hergebeten. Aber, wie gesagt, es wird nicht lange dauern. Ist eigentlich nur der Sicherheit halber. Nachher steht irgendwelches dumme Zeug in der Zeitung. Sie verstehen?“
Müller verstand durchaus.
Buchholz war unsicher, bei seiner Gesinnung sicher zu Recht, und scheute das Risiko. Wenn er Müller als Verantwortlichen gewinnen konnte, war er aus dem Schneider.
Müller zog sein Notizbuch aus der Tasche, und die Arbeit begann.
Jeden einzelnen Fall gingen sie durch, besprachen die Vorgeschichte, das Leben auf der Straße, die Wiedereingliederung.