Wolfskinder. Klaus Melcher
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Wie tief müsste sie ihren Fall empfunden haben, gestern noch Braut, heute nur der Fall eines Streetworkers?
Immer noch starrte Heiko nach draußen.
Carmen hatte sich von ihm gelöst, er hatte es kaum wahrgenommen.
Wenn sie jetzt das Sofa fertig macht, ist es vorbei!
Ein Auto fuhr mit hoher Geschwindigleit über die Benno-Ohnesorg-Brücke, überholte mal links, mal rechts, verfolgt von einem Streifenwagen mit Blaulicht.
Es interessierte ihn nicht, und doch starrte er auf das Bild, sah, wie der Streifenwagen auf die Gegenfahrbahn fuhr und plötzlich quer vor dem Verfolgten stand. Er meinte zu hören, wie sich das Auto in die Seite des Streifenwagens bohrte.
Auch das interessierte ihn nicht.
Und doch starrte er unentwegt auf diesen Film, der vor ihm ablief.
Er fühlte sich leer. Daran hatte auch diese Verfolgungsjagd nichts geändert.
Er könnte die ganze Nacht hier stehen, könnte beobachten, wie Häuser, ganze Stadtteile abbrannten, auch das würde nichts ändern.
Als hätte er keinen Willen, ging er ins Schlafzimmer. Carmen lag in ihrer Hälfte des Bettes, auf dem Bauch, hatte ihr Gesicht im Kopfkissen vergraben.
Leise zog er sich aus und legte sich neben sie.
Lange hielt er es nicht aus. Er drehte sich zu Carmen, hob ein klein wenig die Decke, die sie bis zum Kopf hochgezogen hatte, umfasste ganz sanft ihre Schultern und gab ihr einen Kuss, genau zwischen die Schulterblätter.
Er wusste, sie liebte es, wenn er sie an dieser Stelle küsste, sie zog dann immer die Schulterblätter zusammen, so dass ein kleiner Graben entstand, in den seine Zungenspitze genau passte. Sie ruschelte sich dann immer wohlig, als wollte sie ihn auffordern fortzufahren.
Und nur zu gerne tat er es.
Wenn sie jetzt den kleinen Graben machte, würde alles wieder gut werden!
Mit einem Schrei drehte sich Carmen um, stieß Heiko so heftig an, dass er auf den Rücken rollte, warf sich auf ihn und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Es war wie eine Naturgewalt, als wäre ein Damm gebrochen, als ergössen sich ungeheure Wassermassen über das Land.
Heiko spürte den salzigen Geschmack auf seinen Lippen, auf ihrem Gesicht.
„Carmencita“, flüsterte er, „Carmencita!“
„Schläfst du schon?“, fragte sie Stunden später ganz leise, um ihn nicht aufzuwecken.
Sie lag neben ihm, hatte ihr Gesicht ihm zugewandt, ihr rechtes Bein ruhte auf seinen Beinen, ihre Hand auf seinen Schamhaaren. Seine Hand hatte er auf ihre rechte Hüfte gelegt, hatte sie eine ganze Weile zärtlich gestreichelt, dann hatte er, als wäre er eingeschlafen, aufgehört.
Lange und intensiv hatte sie nachgedacht, während sie so schweigsam nebeneinander lagen, sich leicht liebkosten, als geschähe es unbeabsichtigt.
Ja, sie würde bei ihm bleiben, allen Widerständen zum Trotz. Sie würde auch wieder zur Schule gehen, wenn er es wünschte.
Aber sie würde nicht zu ihren Eltern zurückkehren. Sie würde bei ihm bleiben! Sie könnte sich sogar damit abfinden, wenn er ab und zu einen Jungen oder ein Mädchen mit nach Hause brächte. Aber im Wohnzimmer müssten die schlafen. Und passieren dürfte auch nichts, das würde sie zur Bedingung machen.
Bedingung?
Sie konnte sich nicht vorstellen, Jose jemals eine Bedingung zu stellen.
Jose merkte, wie es in diesem kleinen Kopf arbeitete.
„Komm“, sagte er, „ich habe eine Idee.“
Und damit hob er ein wenig ihren Kopf, gerade so viel, dass er sich von ihr lösen konnte, und stand auf.
„Komm“, sagte er noch einmal, zog sie an der Hand aus dem Bett und führte sie ins Wohnzimmer. Er stellte das Notebook auf den Couchtisch und startete es.
Carmen sah ihn fassungslos an.
Eben hatten sie die schwerste Krise erlebt, hatten sie gerade einigermaßen überwunden, und er wollte sich irgendetwas im Internet ansehen! Sie fasste es nicht.
„Komm!“, bat er noch einmal und zog sie auf den Sitz an seiner Seite.
Er tippte etwas ein, und während er wartete, dass die Seite aufgebaut wurde, sagte er: „Wir haben uns ein paar Tage Urlaub verdient, meinst du nicht? Ein paar Tage nur wir, irgendwo, wo uns keiner kennt.“
Kapitel 9
Wie jeden Morgen zu Dienstantritt stand Ingeborg Mehwald vor dem Spiegel, der oberhalb des Handwaschbeckens in ihrem Büro angebracht war, etwas zu tief, so dass sie immer ein klein wenig in die Knie gehen musste, wollte sie ihren ganzen Kopf betrachten. Lippen schminken, den Lidstrich nachziehen, das wäre auch so gegangen, aber es kam ihr auf die Frisur an, und die konnte sie nur sehen und gegebenenfalls richten, wenn sie in die Knie ging.
Und zu richten gab es jeden Morgen etwas, sei es, dass sie zu Hause nicht gesehen hatte, dass sich eine Locke oder Strähne selbständig gemacht hatte oder dass ein Windhauch die schön geordnete Pracht in Aufruhr versetzt hatte.
Und gab es wirklich mal nichts auszusetzen, dann wurde trotzdem mit einem Nebel von Haarspray nachbetoniert.
Es gab kaum jemanden im Amt, der nicht seine Witzchen machte, der nicht vorsichtig mit den Fingerspitzen seine Haare berührte, als wollte er sie in Form bringen, es gab auch kaum einen, der sich dann nicht bemühte, wie sie über den Flur zu tackern und sich schließlich ganz echauffiert hinzusetzen, mit den Händen die erhitzten Wangen reibend.
Niemand ließ sich dieses allmorgendliche Schauspiel entgehen, wenn es nicht schwerwiegende Gründe gab, Krankheit oder etwa dienstlich notwendige Abwesenheit.
„Gibt es etwas Neues?“, war eine der Fragen oder: „Hat der Chef nach mir gefragt?“, manchmal auch: „Hat der Chef Zeit?“ oder weniger verfänglich: „Wann hat der Chef mal Zeit für mich?“
Ingeborg Mehwald war die Sekretärin Dr. Meiers, des Leiters des Jugendreferates. Bei ihm lief alles zusammen. Waren Jugendliche auffällig geworden, hatten die Schule geschwänzt, waren betrunken angetroffen und aufgegriffen worden, waren beim Diebstahl erwischt worden, immer landeten die Akten bei ihm. Die Polizei, die Fürsorge, auch mal die Schulen schickten ihre Unterlagen, und er sortierte, verteilte an die Mitarbeiter, überwachte deren Arbeit und bestimmte die Reihenfolge, in der die Fälle bearbeitet wurden.
Und er war Vorsitzender des gemeinnützigen Vereins ‚Die