Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee. Thomas Riedel

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Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee - Thomas Riedel

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danke meinem Schöpfer, dass ich nicht mit Ihnen zu leben brauche, Raymond Kennedy«, ereiferte sie sich.

      »Das ist eine Quelle gegenseitiger Dankbarkeit, glauben Sie mir! Ja, das können Sie mir wahrlich glauben«, murmelte Raymond halblaut. »Und nun sputen Sie sich und überbringen Sie schon Ihre Unheilsbotschaft. Es wäre allerdings schön für Mrs. Stamford, wenn Sie das Telegramm noch vor Sonnenuntergang bekäme.«

      »Ich werde meine Arbeit immer ordentlich erledigen«, gab sie schnippisch zurück, »und das ist weitaus mehr, als man von Ihnen sagen könnte, Mr. Kennedy!«

      Miss Uppingham verließ die Kennedys mit gesträubten Federn, doch immer noch eifrig, denn sie hatte sich den besten Bissen für zuletzt aufbewahrt – und sie war äußerst gespannt, wie Violett Stamford auf die Botschaft reagieren würde. Niemand, so sagte sie sich, konnte behaupten, dass sie selbst nicht die toleranteste aller Frauen wäre. Aber Violett Stamford war in ihren Augen eine wirklich skandalöse Person. Sie fragte sich auch, wer es auf sich nehmen würde, Harold Stamford vom Treiben seiner Frau während seiner Abwesenheit zu berichten. Sie hätte es ja brennend gern selbst getan, doch viel Hoffnung, dass ihr dieses Privileg zufallen würde, hatte sie nicht. Stamford war ihr gegenüber immer sehr höflich gewesen, aber dabei hatte er stets auf einen gewissen – recht großen! – Abstand geachtet. Er mochte einfach keinen Klatsch, und er würde ihr vermutlich niemals Gelegenheit geben, ihm die Dinge zu erzählen, die sie wusste.

      Man musste es Harold Stamford lassen, dass er aus dem baufälligen alten Landhaus etwas ganz Besonderes gemacht hatte, gestand sich Miss Uppingham ein, als sie mit ihrem wackeligen Einspänner die Auffahrt entlangfuhr. Warum auch nicht, wenn man über solche Mittel verfügte? Er hatte wunderschöne Möbel gekauft, sogar Strom für Licht, Küche und fließend Wasser eingeleitet, für Abdichtungen gegen die Kälte und damit für ausreichende Wärme gesorgt. Dann hatte er Violett heimgeführt – Violett, die nach ihrer Ansicht ebenso wenig hierher passte wie etwa ein paar bunte Pfauen, die zur Sommerzeit über den nicht vorhandenen englischen Rasen stolzieren würden.

      Miss Uppingham rutschte vom Kutschbock herunter und schritt über die Steinquader hinauf zur Eingangstür. Clark Marshall hatte den Schnee weggeschaufelt. Er machte alle Gelegenheitsarbeiten für die Stamfords – aber viele dieser Arbeiten konnte es in dem modernen Haushalt mit all seinen technischen Neuheiten wahrhaftig nicht geben! Clark Marshall verbrachte den größten Teil seiner Zeit auf den ausgetretenen Stufen des Postamtes, wo er von der letzten Jagdsaison und von der kommenden Forellensaison träumte. Er war faul – beinahe so faul wie Raymond Kennedy. Doch für ihn gab es wenigstens eine Entschuldigung: Er hatte nicht für Frau und Kind zu sorgen. Er war Junggeselle und wenn er primitiv leben wollte, so war das seine eigene Angelegenheit – obgleich Miss Uppingham vor vierzig Jahren gehofft hatte, es würde eines Tages auch die ihre sein. Von dieser enttäuschten Hoffnung wusste die ganze Stadt, und das war wohl der einzige Klatsch in Little Gaddesden, den Miss Uppingham nicht selbst ins Leben gerufen hatte.

      Sie erreichte die Eingangstür und klopfte stürmisch mit dem Messingklopfer. Dennoch musste sie noch eine geraume Zeit warten, bis ihr geöffnet wurde. Als Violett Stamford endlich vor ihr stand, schnappte sie nach Luft. Die Hausherrin trug ein Nachtgewand.

      Es war knallrot, mit Gold bestickt und hob Violetts üppige Formen nach Miss Uppinghams Ansicht mit wenig taktvoller Deutlichkeit hervor. Es war vorn so tief ausgeschnitten, dass Miss Uppingham nicht umhinkam zu erröten und ihre Augen sofort schamvoll abzuwenden. Im Nachtkleid, dachte sie, um vier Uhr am Nachmittag! Und man sagt sich, dass sie in dieser Aufmachung tatsächlich Besuch empfängt – sogar männlichen! Wie empörend!

      Violett Stamford hatte dunkles Haar, das jetzt auf unverschämte Weise lose auf ihre Schultern herabfiel. Ihre Haut hatte die Farbe von altem Elfenbein und ihre Augen waren dunkelblau. Form und Farbe ihres Mundes waren unter dem in Mode gekommenen, dick aufgetragenen Lippenstift kaum zu erkennen.

      In meinen Jugendtagen hätte man ein derart aufgemachtes Frauenzimmer glattweg eine liederliche Person genannt, ging es ihr durch den Kopf. Freilich, sie ist Schauspielerin gewesen, das erklärt so manches …

      »Nun, Miss Uppingham?« Mrs. Stamfords tiefe Stimme schien, wie immer, eine Spur Hohn zu enthalten – und wie immer fühlte sich Miss Uppingham in ihrer Gegenwart unbehaglich.

      »Ich habe ein Telegramm für Sie, Mrs. Stamford«, erklärte sie.

      »Danke«, erwiderte Mrs. Stamford und streckte ihre Hand nach dem Telegramm aus.

      Miss Uppingham wartete unbewegt. Sie hatte es fertiggebracht, sich so in die Tür zu stellen, dass ihr Gegenüber sie nicht schließen konnte.

      »Gibt es sonst noch etwas, Miss Uppingham?«, erkundigte sich Mrs. Stamford.

      »Wollen Sie es nicht öffnen?«

      »Meine liebe, Miss Uppingham, das scheint mir kaum nötig zu sein«, reagierte sie mit einem süffisanten Lächeln. »Mr. Jackson hat mir bereits vor über einer Dreiviertelstunde mitgeteilt, dass Sie sich auf dem Weg zu mir befänden. Er wusste auch schon zu berichten, was das Telegramm enthält, denn Sie haben es ihm vorgelesen … Wäre es nicht einfacher, Sie versuchten die Neuigkeiten amerikanischen Eingeborenen gleich, mit Rauchsignalen zu verbreiten? Ich bin sicher, Sie würden auf diese Weise sehr viel Zeit gewinnen!«

      »Da hört sich ja wohl alles auf!«, echauffierte sich Miss Uppingham und trat verärgert einen Schritt zurück, worauf Mrs. Stamford die Tür direkt vor ihrer Nase ins Schloss warf. »Was für eine unverfrorene Frechheit!«, rief sie ihr noch hinterher, ehe sie sich umwandte und zu ihrem Gespann zurückkehrte.

      ***

      Kapitel 3

      Kenneth Jackson stand in der holzgetäfelten Bibliothek, seinen Rücken gegen den steinernen Kamin gelehnt. Er war ein großer, schlanker junger Mann mit blondem Haar. Seine Augen waren blau und von kleinen Sorgenfalten umrahmt. Er gehörte zu den Menschen, die auch alte Kleidung tragen konnten, ohne dass es den anderen zum Bewusstsein kommt. Heute trug er schlichte Baumwollhosen, die in schweren Stiefeln steckten, und eine braune Jacke über einem rotkariertem Hemd – ähnlich dem kanadischer Holzfäller. Er spielte mit einer teuren Bruyèrepfeife, die er immer wieder anzündete und die ihm ebenso regelmäßig ausging. Ein halbgefülltes Whiskyglas stand in Reichweite auf dem Kaminsims.

      Violett Stamford trat ein, das ungeöffnete Telegramm in der Hand. »Da ist es endlich!«, stellte sie mit einem säuerlichen Lächeln fest, setzte sich auf die Couch und goss sich ebenfalls einen Drink ein.

      »Früher oder später musste es ja kommen«, murmelte Jackson niedergeschlagen.

      »Nimm es nicht so tragisch!«, erwiderte sie ungeduldig.

      »Ich kann das nicht so leicht hinnehmen«, entgegnete er. »Ich habe ihn doppelt betrogen … als Freund und als Geschäftspartner.«

      »Das ist doch Unsinn!«, meinte sie, trank den Drink aus und stellte das Glas zurück auf das Servierbrett. »Alles kommt wieder in Ordnung. Harold wird wieder einmal ein bisschen auf Verheiratetsein machen und du wirst dich mit der kleinen Cooper versöhnen … und endlich deinen Roman fertigstellen.«

      »Wenn es nur so einfach wäre«, widersprach Jackson. »Zwischen Elizabeth und mir ist es aus, … und du weißt das auch.«

      »Dann habe ich dich vielleicht vor etwas Schlimmerem als dem Tod errettet …«, spöttelte sie.

      Die Linien in Kenneth Jacksons Augenwinkeln verschärften sich. »Sie hat mich geliebt … und ich sie auch. Es war eine schöne, klare

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