Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee. Thomas Riedel

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Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee - Thomas Riedel

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Während der letzten sechs Monate seiner Militärzeit hatte er als Offizier in der Kronkolonie Indien gedient. Er war bedeutend, erfolgreich und dynamisch. Seine geistreichen Aussprüche wurden immer wieder von Journalschreibern zitiert. Er besitzt alles, was sich ein Mann erträumen kann, dachte Jackson.

      Sein erster Roman war von ihm verlegt worden und hatte, wenngleich wenig Geld, so doch gute Kritiken mit sich gebracht. Jackson wollte eine Stellung annehmen und das nächste Buch in seiner Freizeit verfassen. Aber davon hatte Stamford nichts wissen wollen. Er brachte ihn nach Little Gaddesden, und als er seinem Marschbefehl folgte, war das für Jackson eine weitere Verantwortung.

      »Kümmere dich gut um Violett, Kenneth«, hatte Stamford ihm gesagt. »Sie wird einsam sein, während meiner Abwesenheit. Little Gaddesden ist ein Dorf und die Leute hier sind kein Umgang für sie.«

      Ihm kam diese Aufgabe vor, als gälte es, den Heiligen Gral zu behüten. Ihn verband damals ein tiefes Gefühl mit der kleinen Elizabeth Cooper, und es wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass Violett diese Liebelei stören könnte. Jedenfalls nicht bis zum allerersten Tag nach Harolds Abreise, als sie – nach einem Wutausbruch, weil ihr Mann sie allein gelassen hatte – irgendwie in seine Arme schmolz und er sich nach einer kurzen Stunde an tausend Angelhaken gefangen fand. Sie zerrten an seinem Fleisch, an seinem Geist und ließen ihn nicht mehr los. Fort war das Bild einer glücklichen Zukunft mit Elizabeth – der einfachen, süßen, verständnisvollen Elizabeth. Nichts gab es mehr als Violett mit ihrem alle Sinne berauschenden Liebesspiel.

      Nun war es aus! Gestern war es noch lebendig gewesen. Heute war es tot. Sie hatte ihn von den Angelhaken gelöst und zurück in die Themse geworfen worden. Und er … er hatte vergessen, wie man schwimmt!

      Kenneth Jackson war so tief in seine Gedanken versunken, dass er nicht bemerkt hatte, wo er inzwischen angelangt war: auf dem Marktplatz. Die neumodischen Gaslaternen brannten jetzt, und im größten und einzigen Kaufladen herrschte der übliche Rummel vor Ladenschluss. Er brauchte noch Tabak, zögerte aber einzutreten. Das ganze Dorf sprach über ihn. Aber früher oder später …

      Er ging auf den Laden zu, gerade als Elizabeth Cooper mit einem Arm voll Paketen heraustrat. Er wollte sich noch schnell abwenden, aber sie hatte ihn bereits ausgemacht.

      »Hallo, Kenneth!«, rief sie ihm zu. Er meinte Vorwurf, Ärger und Widerwillen aus ihrer Stimme herauszuhören, obgleich nichts davon vorhanden war.

      »Hallo, Elizabeth!«, grüßte er zurück.

      Vielleicht war es die Kälte, die sie erröten ließ. Sie trug ein dickes Kleid und eine hellgelbe Weste unter ihrem Wintermantel. Ihre Hände steckten in gelben Wollhandschuhen. Ein Windstoß hatte ihr hellbraunes Haar mit Schnee gepudert. »Ein typisches Landmädchen«, so hatte Raymond Kennedy sie einmal beschrieben und aus seinem Mund war das nicht gerade als Kompliment gemeint. Aber Kenneth Jackson kam es damals treffend und irgendwie sogar liebenswürdig vor. Ihre großen, ehrlichen Augen gefielen ihm, und die stolze Art, in der sie ihren Kopf hochzuhalten pflegte. Sie war bescheiden, offen und ohne Verwicklungen, und sie liebte schlichte Dinge und träumte einfache Träume. Er hatte sie geliebt und von einer gemeinsamen Zukunft mit ihr geträumt, in der sie sein Haus führen, seine Kinder betreuen und sich für seine Arbeit interessieren würde, ohne sich zu geistreicher Kritik berufen zu fühlen. Für ihn war sie die vollkommene Frau gewesen – bis zum Augenblick seines ersten Besuchs bei Violett Stamford, um die er sich ›kümmern sollte‹.

      »Es wird wohl noch weiterschneien«, meinte sie nach einem kurzen Blick zum Himmel. »Der Wind kommt aus Südwest.«

      Von diesen Dingen sprach man auf dem Land außerhalb Londons; sie waren wichtig und gingen alle an, denn man musste gemeinsam kämpfen, um die Straßen und Wege offen zu halten und Kontakt mit den unmittelbaren Nachbarn zu wahren. Jeder führte auf seinem Gespann eine Schaufel und ein Schleppseil mit sich, um einem Freund oder einem Fremden zu helfen, oder selbst Beistand zu finden, sollte man das Pech haben, in einem Schneesturm stecken zu bleiben.

      »Hast du schon die Neuigkeit gehört?«, wollte er wissen, ohne genauer zu erklären, worum es ging, denn es gab nur eine Neuigkeit.

      »Du meinst Harold?«

      »Ja.«

      Darauf konnte sie nichts erwidern. Alles Weitere hätte für ihn eine Spitze bedeutet. »Sei mir nicht böse, Kenneth, ich muss loslaufen. Vater wartet auf das Dinner.«

      »Nur auf eine Minute, Elizabeth!«, hielt er sie zurück. Sie wartete, und er sah, wie sie sich bemühte, die Dinge leicht und einfach zu nehmen. Es musste sich sammeln, ehe er fragte: »Darf ich zu dir kommen, Elizabeth? Bald? … Ich muss unbedingt mit dir sprechen. Ich muss … irgendwie versuchen, dir … dir zu …«

      »Du bist immer willkommen, Kenneth«, lächelte sie.

      »Dessen bin ich mir nicht so sicher«, murmelte er und war erstaunt darüber, wie nahe er daran war, aufzuschreien. »Ich will nichts von dir verlangen. Ich erwarte auch nichts von dir. Ich möchte nur, dass du verstehst …«

      »Ich verstehe alles, Kenneth«, erwiderte sie sanft. »Und natürlich kannst du kommen. Wann immer du willst. Wir werden uns beide freuen, Vater und ich.«

      Jackson wusste, dass Marvin Cooper sich ganz sicher nicht über seinen Besuch freuen würde. Jetzt und hier muss ich sie festhalten, erzählen und erklären – nicht mehr warten, schoss es ihm durch den Kopf. Aber da fiel die Ladentür ins Schloss, und er sah auf: Der alte grauhaarige Clark Marshall stand auf der Treppe. Es tropfte von den Enden seines unglaublichen Schnauzbartes und William Chapman war bei ihm. Chapman grüßte mit einer kurzen Handbewegung und Jackson winkte zurück.

      In diesem Augenblick entzog sich Elizabeth ihm. Sie nahm ihre Pakete fester in den Arm und machte sich auf den Heimweg. »Komm, wann du willst, Kenneth!«, rief sie ihm noch über die Schulter zu.

      Mit hängenden Schultern stand er da. Er fühlte sich elend, als er sie so gehen ließ.

      ***

      Kapitel 5

      »Ich bin ein alter Mann«, stieß Clark Marshall zwischen den feuchten Enden seines Schnauzbartes hervor. »Die Mädchen sind nichts mehr für mich. Aber verdammt will ich sein, wenn ich mich von einem jungen Windhund unterkriegen lasse und zuschaue …« Seine wässrigen Augen beobachteten Jackson, der noch immer genau dort stand, wo Elizabeth Cooper ihn verlassen hatte, und trostlos mit der Stiefelspitze eine gefrorene Lache zersplitterte.

      William Chapman hatte eine rote Tabaksdose aus der Tasche seines Regenmantels genommen und stopfte langsam seine Pfeife. Er sah der jungen Frau nach, die allmählich ihren Blicken entschwand. Chapman war um die dreißig Jahre alt und sein Haar war fast so rot wie seine Tabaksdose, die er in der Hand hielt. Seine Augen waren grau, sahen ehrlich und ein wenig betrübt aus. Chapman war ein Produkt der Gegend. Er war auf dem Bauernhof seines Vaters aufgewachsen. Seine erste Erziehung hatte er in der Dorfschule genossen, wo ein einziger Lehrer alle Klassen unterrichtete. Damals hatte er keine größere Stadt als das fünf Meilen entfernte Berkhamsted gekannt. Aber sein Vater hatte in seiner ganzen Starrköpfigkeit beschlossen, dass es sein Sohn weiterbringen sollte als er selbst. Ohne je darüber zu sprechen, hatte er Jahr für Jahr ein paar Pfund zurückgelegt, und als sein Junge mit der Schule fertig war, reichte es für die landwirtschaftliche Schule. Dort lernte William Chapman, den Boden zu verbessern und die Erde zu pflegen, die er abwechselnd liebte und hasste. Er kam mit Menschen in Kontakt, die einen weiteren Horizont hatten. Er war wissbegierig und interessierte sich für alles. Als er nach Hause zurückkam, begann er das Chapman-Gut umzuwandeln – es sollte mehr werden als ein Mittel, aus dem teils steinigen Boden das nackte

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