Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee. Thomas Riedel

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Charles Finch: Lautlos fiel der Schnee - Thomas Riedel

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wirkte irgendwie überladen, fast so, als wäre die Grenze des guten Geschmacks erreicht.

      Jubelnd umringte ihn die Menge. Dr. Finch kletterte schamlos auf einen Gepäckkarren, um sich nichts von dem Schauspiel entgehen zu lassen. Er sah die zwei recht gleichgültigen und nur angedeuteten Küsse, mit denen Harold seine Frau begrüßte – auf jede Wange einen. Er bemerkte die warmen Händedrucke vieler anderer, die er nicht persönlich kannte, aber von denen er bereits einige zuvor im Ort gesehen hatte. Er sah, dass sich weder Chapman noch Jackson nach vorn gedrängt hatten, um ihm die Hand zu schütteln und wie Stamford nach Jackson Ausschau hielt, um ihn zu umarmen. Dabei entging ihm nicht Kenneth Jacksons blasse, ungesunde Gesichtsfarbe. Zuletzt, als der Zug bereits wieder abgefahren war, ersuchte Richter Brown die versammelte Menge um Ruhe.

      »Mein lieber Harold, man hat mich beauftragt, eine Willkommensrede zu halten«, begann er mit seiner kräftigen Stimme.

      »Hört, hört!«, schrie jemand aus dem Publikum.

      Die Stimme des Richters war warm und geschult. »Ich hatte eine Rede vorbereitet«, fuhr er fort, »doch die Freude, Sie wiederzusehen, hat sie aus meinem Gedächtnis vertrieben. So will ich nur sagen, dass wir glücklich sind, Sie wieder heil und gesund zurück in unserer Mitte zu sehen!«

      Applaus kam auf, gefolgt von weiterem Händeschütteln, Lärm, Pfannenschlagen und Glockengebimmel, während Stamford und seine Frau langsam zur Kutsche schritten. Die Überseekoffer wurden hinten aufgeladen. Dann kletterte Stamford auf die Kutschbank neben seine Frau, und ließ die Pferde antraben. Man erließ ihnen den Rest der Katzenmusik und war so gnädig, sie ihre Wiedervereinigung allein feiern zu lassen – was sie auch taten.

      *

      Zu Hause angekommen, zog Violett Stamford ihren pelzbesetzten Wintermantel aus und ging in das holzgetäfelte Studio. Dort goss sie gerade zwei Drinks ein, als ihr Mann eintrat. Sie wandte sich ihm zu und sah in diesem Augenblick besonders kühl und reizend aus.

      »Nun, Liebling«, sagte sie in spöttischem Ton, »hast du keine wärmere Begrüßung für mich als die zwei keuschen Küsse am Bahnhof?«

      »Gewiss habe ich eine!« Er hob die Hand und gab ihr eine Ohrfeige – so beißend stark, dass sie zurücktaumelte und auf die Couch fiel. »Ist diese Begrüßung warm genug für dich?«, fragte er darauf, mit einem bösen Funkeln in den Augen.

      ***

      Kapitel 9

      Das Haus war vom Keller bis zum Dachboden hell erleuchtet. Pauline Kennedy hatte alles festlich geschmückt, Mit unzähligen Papierschleifen und Lampions – Überbleibseln der Gartenfeste aus Major Saunders' Tagen. Der Platz zwischen dem Haus und den Ställen, den früher der Gemüsegarten eingenommen hatte, diente jetzt als Stellplatz für Pferde und Kutschen. Stanley hatte vorausschauend eine Sturmlaterne an den Weidenbaum gehängt, damit niemand versehentlich in das leere Schwimmbassin fuhr.

      Die ganze Siedlung schien anwesend zu sein – arm und reich. Es schien als sollten an diesem Abend alle Meinungsverschiedenheiten vergessen werden. Die Cunningham-Boys spielten ordentlich auf. Alkohol gab es in Hülle und Fülle. Sogar Richter Brown beteiligte sich am Tanz. Auch Charles Finch, der weder trank noch tanzte, unterhielt sich augenscheinlich ausgezeichnet. Violett Stamford, die in einem atemberaubenden Kleid erschienen war, durfte keinen Tanz auslassen. Sie fiel wie immer aus dem Rahmen und brachte die anderen Damen in Rage, aber die anwesenden Herren reagierten exakt so, wie sie es sich gewünscht hatte: Sie war der unumstrittene Mittelpunkt des Abends.

      Harold Stamford schien ein wenig niedergeschlagen zu sein. Er trank schnell und heftig, um sich aufzuheitern. Finch versuchte ein- oder zweimal, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, doch jedes Mal wurde der Ehrengast abgelenkt.

      Die Coopers kamen zeitig, und Miss Uppingham bemerkte, dass Elizabeth mit Kenneth Jackson tanzte, als hätte ihre Freundschaft niemals eine Unterbrechung erfahren. Marvin Cooper gefiel das ganz und gar nicht, und er versuchte, an der improvisierten Bar mit Violetts Mann um die Wette zu trinken.

      Der größte Misston des Abends war Raymond Kennedys Benehmen. Sooft es ihm möglich war, flirtete er mit Mrs. Stamford, vor allem dann, wenn er wusste, dass ihn seine Frau beobachtete. Dabei stellte er lautstarke Vergleiche zwischen Violett und den anderen Damen an, die für letztere nicht gerade schmeichelhaft waren.

      Stanley, der sich anfangs gut unterhalten hatte, zog sich bald zurück. Er schämte sich für seinen Vater und war wütend auf ihn. Als er aus der Küche zurückkam, wo er ein Glas Wasser getrunken hatte, stieß er in der Vorhalle auf ihn, wo er engumschlungen in einer dunklen Ecke mit Mrs. Stamford stand. Das war für ihn zuviel und er hielt es nicht mehr aus. Sofort stürzte er aus dem Haus, über den Stellplatz zu den Ställen.

      Dort, wo früher die Pferdegeschirre hingen, hatte Stanley sich einen Bastelraum eingerichtet. Ein altes Bett stand darin. Er legte sich hin, deckte sich mit einer mottenzerfressenen Pferdedecke zu und starrte vor sich hin. Tränen brannten in seinen Augen, und sein Körper schüttelte sich in wildem Schluchzen. Nach einer Weile fiel er erschöpft in festen Schlaf.

      Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, als er vor Kälte erwachte. Er hörte Musik – also war die Feier noch nicht zu Ende. Er wollte nicht ins Haus zurück, aber hier im Stall gab es keine Möglichkeit, sich zu erwärmen. Kurz hielt er seine Hände um die Flamme der kleinen Kerze. Seine Zähne klapperten und es blieb ihm nichts anderes übrig, als doch wieder zurückzukehren.

      Draußen hatte es erneut zu schneien begonnen. Es war windstill und der Schnee fiel in großen fedrigen Flocken zu Boden. Er deckte die Furchen auf dem Fahrweg zu, verhüllte die Huf- und Radspuren am Stellplatz und hatte auch seine eigenen Fußtritte verwischt. Stanley wollte zur Küchentür laufen, als er den seltsamen Hügel im Schnee sah – dicht neben dem Schwimmbassin. Es war ein Hügel, der dort nicht hingehörte. Es sah aus, als hätte sich hier jemand schlafen gelegt und mit dem weißen Leinentuch des Schnees zugedeckt. Stanley zögerte. Dann aber ging er langsam auf den Hügel zu. Er hatte eine instinktive Angst vor Betrunkenen, woran wahrscheinlich das Benehmen seines Vaters schuld war. Aber ein Mensch, der unter der weißen Pracht einschlief, konnte leicht erfrieren …

      Er kam näher an den Hügel heran. Dann sah er die Form von zwei ausgebreiteten Armen und die Konturen eines Körpers mit dem Gesicht nach unten. »Hallo!«, sprach Stanley die Person schüchtern an. Und nochmals, diesmal deutlich lauter: »Hallo!«

      Ein kleiner Windstoß blies den Schnee von der einen ausgestreckten Hand. Sie sah wie eine weiße Klaue aus …

      Augenblicklich drehte sich Stanley auf dem Absatz um, rannte in die Küche und durch deren Tür in die Halle. Die heiße, schlechte Luft und der Lärm drangen auf ihn ein, dass ihm fast übel wurde – Alkohol, Zigarettenrauch, schrilles Lachen und unermüdliches Schleifen von Füßen über das Tanzparkett. Stanley öffnete den Mund und versuchte zu schreien, aber er brachte keinen Ton heraus.

      Plötzlich legte sich eine feste, freundliche Hand auf seine Schulter: »Mein Gott, Junge! Du siehst ja schrecklich aus! Was ist los?«

      Stanley wandte sich um und sah in die milden, fragenden Augen des Doktors. »G … Gott seeeei Daaank, dass ich Sie … gefunden habe«, stammelte er mit klappernden Zähnen.

      »Was ist denn los?«, fragte Finch ihn nochmals.

      »Köö … nnen Ssiie mit mir … kommen? Draußen liegt jemand im Schnee. Er ist krank oder verletzt, glaube ich. Er sieht aus wiie eiiii …n … T …toter!«

      ***

      Kapitel

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