Das Zwillingsparadoxon. Ron Müller
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»Sie werden eingescannt und als Bild abgedruckt. Halbseitig, Seite eins, unten.«
»Halbseitig?«
»So ist es – erstmals eine großflächige Werbung auf der Titelseite, die gleichzeitig ein Aufmacher ist. Das hatte die Anzeigenabteilung auch noch nicht.«
»Und wie erklären wir, was wir da unters Volk geben?«
»Keine Ahnung«, antwortete Jakob. »Am liebsten würde ich die Dinger hinten bei den Nachlässen drucken und allenfalls zwei Spalten fünfzig dafür aufwenden. Der Geiger kann ja nicht mehr klagen, wenn er statt des Aufmachers nur eine Doppelspalte mit fünfzig Millimetern abbekommt.«
»Na, dann mach doch«, meinte Martin.
»In dem Fall erstreitet eine Stiftung für ihn die Sache. Alles im Vorfeld geregelt.«
»Dann war dieser Zettel heute Morgen unsere Topschlagzeile?«
Jakobs Stirn zog sich Falten. Er starrte aus dem Fenster.
Keinem der beiden Männer war zu diesem Zeitpunkt klar, dass es in der Stadt bereits ein Dutzend Menschen gab, die fieberhaft an etwas arbeiteten, das größer werden würde, als Doktor Geigers optimistischste Prognose vorausgesagt hätte. Es sollte mit der Zeit zu tun haben, soviel war sicher, und wohl auch mit dem Tod.
Zweiter Teil
Man hat dir nie gesagt, wie die Zeit aussieht. Du hast sie auch niemals erblickt, nur das, was sie mit allem und jedem macht.
5
Allmählich legte sich Hennings Aufregung. Der Tag war denkbar ungeeignet, um sich über eine überhebliche Alte aufzuregen, die eine Einfahrt blockierte.
Ein Thema bekommt nur so viel Raum, wie man ihm gibt. Seine frühere Therapeutin hatte zu diesem Satz geraten, wenn ihn etwas zu überfordern drohte. Man müsse das nur oft genug zu sich sagen, damit es wirkt, und natürlich daran glauben. Ihm war nach einer Schimpftirade zumute, was für Geldschneider Psychologen seien, und wie fernab aller Realität ihre Ratschläge lagen. Doch was brachte es, sich in einer Ladenstraße über einen Personenkreis aufzuregen, der nicht anwesend war.
Das Smartphone gab einen Ton von sich, eine E-Mail. Es dauerte, bis sich das mitgesandte Foto aufbaute. Jemand hielt den Stadtanzeiger in der Hand. Henning vergrößerte den Ausschnitt. Die Handschrift seines Vaters. Leserlicher als sonst, mit weniger Schnörkeln, aber der kurze Satz war von ihm. Kein Zweifel. Wer benutze schon braune Tinte und gierte nach jedem kleinen »t«, um dessen Querstrich über das gesamte Wort zu ziehen.
Dr. Oswald Geiger, mit der Unterschrift wurde auch Außenstehenden der Urheber bekannt.
»Nicht einmal krepieren kann er, ohne den Leuten seinen Doktor unter die Nase zu reiben.«
Das Telefon klingelte. Es war der Absender der E-Mail. Henning ignorierte ihn.
Noch ein knapper Kilometer bis zum Südfriedhof und noch mehr als eine Stunde Zeit.
Die Bänke der Kapelle hatten nicht ausgereicht, um die aufzunehmen, die sich verabschieden wollten. Martin stand seit einer halben Stunde an die Wand gelehnt und wartete darauf, dass etwas passierte, über das es zu schreiben lohnte.
Er sah den Kollegen eines anderen Blattes einige Reihen vor sich und ließ ein stummes Hallo über die Lippen kommen, um dessen Gruß nicht unerwidert zu lassen. In Großstädten verhielt man sich nicht so, aber hier, in einer Stadt, die trotz der neunzigtausend Einwohner das Provinzielle nicht ablegen konnte, wusch eine Hand die andere. Kaum erbitterte Konkurrenz zwischen den beiden lokalen Tageszeitungen.
»Seine Gebete gehen an seine Frau und vor allem an seine Söhne«, sagte der Mann neben dem Sarg, dessen doppelter Windsorknoten wie aus dem Bilderbuch schien.
Was für ein aufgesetzter Mist. Henning empfand keine Wut. Die Inszenierung war schlichtweg lächerlich.
Oswald Geiger hatte seine Grabrede vorformuliert. Nicht einmal jetzt konnte er Dinge anderen überlassen. Als hätte er Angst gehabt, dass jemand an diesem Tag aus dem Nähkästchen plauderte. Nicht ganz unbegründet, da ihm die nächsten Angehörigen ziemlich egal gewesen waren, und sein älterer Sohn nicht grundlos zwei Jahre lang jeden Mittwoch beim Therapeuten gesessen hatte.
»Seine Gebete gehen an seine Frau«, äffte Henning den Redner nach. Gebete!
Mit der Kirche stand der Vater zeitlebens auf Kriegsfuß. Warum wohl hielt kein Pfarrer die Rede, sondern der Inhaber des Bestattungsunternehmens? Letzterer hatte bereits die halbe Familie unter die Erde gebracht.
Wenn man sich in dieser Gegend Brandenburgs für einen Bestatter entschied, dann baute man eine seltsame Beziehung zu ihm auf, die erst endete, wenn er aus dem Amt ging oder in der Familie niemand mehr übrig war. Man grüßte sich in der Stadt, unterhielt sich intensiver, wenn eine Beerdigung anstand, achtete aber grundsätzlich darauf, den Kontakt so gering wie möglich zu halten, damit das Verhältnis zwischen zwei Todesfällen ausreichend abkühlen konnte, und man getrost auch nach dreißig Jahren noch beim Sie bleiben konnte.
Eine halbe Stunde später war es an der Zeit, den Verstorbenen an seinen letzten Ort zu bringen. Die Gäste erhoben sich. Martin tat es ihnen gleich, allerdings ohne mit den Gedanken bei der Sache zu sein. Er grübelte.
Die Arbeit in der Redaktion war für ihn seit der Geburt seiner Tochter stressig geworden. Er hatte es sich einfacher vorgestellt, Frau, Säugling und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Früh zur Arbeit gehen und erst nach zwanzig Uhr heimzukommen ging jetzt nicht mehr, ohne den Haussegen zu gefährden. Er brauchte ein anderes Zeitmanagement.
Vielleicht sollte ich mir an den Nachmittagen zwei, drei Stunden für die Familie frei halten und ab halb sieben regelmäßig eine Spätschicht einlegen?!
Der Gedanke tat gut, denn er zeigte, dass Martin noch Alternativen hatte – und Alternativen waren zwingende Voraussetzung für seinen Optimismus.
Langsam ließ er sich an das Ende des Trauerzugs zurückfallen und bog schließlich Richtung Parkplatz ab.
6
Am Morgen kam ein Funkwecker seinem Hauptzweck nach. Er klingelte. Im Laufe der letzten Monate hatte sich genügend Wut über den furchtbaren Klingelton angestaut, dass Hennings Hand den Wecker ausschlug, bevor er Gelegenheit bekam, ein zweites Mal zu plärren.
Er schlurfte ins Bad. Starrte dort erst verschlafen ins Leere, stützte dann die Arme auf den Rand des Waschbeckens und betrachtete sich im Spiegel.
Gott, seh’ ich fertig aus.
Er hatte furchtbar geschlafen. Sonst war das der Fall, wenn er jemand zum Vögeln gefunden hatte und auswärts nächtigte.
Henning ging davon aus, beziehungsunfähig zu sein, weil Frauen ihn in der Regel schon bei der zweiten Verabredung langweilten oder er recht schnell eine andere fand, die im direkten Vergleich mit der Aktuellen besser abschnitt. Eine von ihnen mehrmals zu treffen, strahlte obendrein die Bedrohung aus, sich ihr verpflichtet zu fühlen und mehr Zeit zu investieren, als