Das Zwillingsparadoxon. Ron Müller
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Читать онлайн книгу Das Zwillingsparadoxon - Ron Müller страница 6
Während Henning sich betrachtete, wurde er den Verdacht nicht los, allmählich einen verlebten Eindruck zu machen.
Er verließ das Bad, machte einen Abstecher in die Küche und steuerte auf das Sofa im Wohnzimmer zu, wo er in Ruhe einen oder zwei Kaffee trinken konnte, um auf Betriebstemperatur zu kommen.
Für gewöhnlich war das der Zeitpunkt, an dem Schröder ihren Schlaf für beendet erklärte, und nach längerer Streck- und Dehnungsprozedur neben ihm auftauchte. Morgens zeigte sie sich noch recht loyal und ließ sich ausgiebig kraulen, ohne die Gefahr, dass sie nach der Hand beißen oder die Krallen darin versenken wollte – wie sie es alle paar Tage tat.
Schröder machte ihr eigenes Ding und schien grundsätzlich nicht viel von ihrem Besitzer zu halten. Ein Zustand, mit dem Henning sich meistens arrangierte. Bis ihm gelegentlich mal der Kragen platzte. In der Regel hatte die Katze dann irgendwo herumgelegen, vermeintlich schlafend, und während er an ihr vorbei ging, fauchte sie und verpasste ihm urplötzlich einen tiefen Schmiss am Bein. Sekunden später konnten ihn die Nachbarn im ersten Stock des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Katze jagen sehen, welche offensichtlich Opfer eines Vergehens gegen das Tierschutzgesetz werden sollte. Doch den Beteiligten wurde schnell klar, dass diese Versuche aussichtslos waren, da Henning nicht die Fitness und Reaktion besaß, sie zwischen die Finger zu bekommen.
Das alles lag einige Zeit zurück. Henning war seit Tagen allein in der Wohnung. Es war anders seitdem. In der ersten Zeit, nachdem er Schröder weggegeben hatte, ertappte er sich dabei, wie er immer wieder kurz davor war, nach ihr zu rufen. Die neue Situation brauchte noch eine Weile, bis er sich ihrer ständig bewusst war.
Er umklammerte einen Becher Kaffee, stand barfuß auf den Flurdielen und sah in die einzelnen Zimmer. Still war es geworden. Nicht, dass die Katze dauernd Geräusche von sich gegeben hatte, aber durch sie war er nicht gezwungen, einzig auf seine eigene Gesellschaft angewiesen zu sein. Immer mal wieder, wenn sie an ihm vorbeigeschlichen war, hatte er die eine oder andere Bemerkung gemacht oder ihr über den Rücken gestreichelt. Nicht viel, aber dennoch kurze Kontakte, die die Zeit teilten, die er in der Wohnung verbrachte.
Henning schlürfte vom Kaffee.
»Viel zu stark«, murrte er in sich hinein und ärgerte sich eigentlich nur darüber, jetzt so nah bei sich zu sein.
Eine halbe Stunde später stand er kurz davor, sich auf den Weg zum Haus seiner Eltern zu machen. Hennings Hand griff nach einem Schlüsselbund, dem Portemonnaie und vergaß das Handy auf dem Flurschrank. Nach wenigen Schritten waren die Utensilien in seinen Hosentaschen verstaut und die Wohnungstür erzeugte das gewohnte Geräusch, wenn sie ins Schloss fiel. Es ließ sich Angenehmeres vorstellen, als gleich eine völlig verheulte Familie anzutreffen. Ändern konnte er sowieso nichts an deren Zustand – nur sie jetzt allein zu lassen, war auch kein gangbarer Weg. Also zog er den Helm über und trat die KTM an.
Im 18. April 1901 beobachtete Duncan MacDougall einen an Tuberkulose erkrankten Mann. Drei Stunden und vierzig Minuten ließ er ihn nicht aus den Augen. Bis er starb. Er hatte ihn auf eine Pritsche legen lassen, die an einer Waage von der Decke hing. Jede Stunde verlor der Proband achtundzwanzig Gramm, was man auf Verdunstung zurückführte.
In den Sekunden, als er entschlief, fehlten drei Viertel einer Unze. Einundzwanzig Gramm, die MacDougall auf nichts anderes als die Seele des Verstorbenen zurückführen konnte.
Dritter Teil
Wie gern würde ich behaupten, dass ich mit der Zeit freundschaftlich verbunden wäre, doch nur zu gut weiß ich, dass dies hieße, dass ich dem Tod den Weg ebne.
7
Entschuldigung.« Julia lugte vorsichtig hinter dem Türrahmen hervor. Sie war Anfang zwanzig und noch nicht lange bei der Zeitung.
»Was ist?« Jakob, seit Jahren leitender Redakteur des Blattes, blickte nicht einmal vom Bildschirm auf.
»Da möchte Sie ein Mann am Telefon sprechen.«
»Wer?« Jakob sparte sich die Frage, warum sie den Anrufer nicht gleich durchgestellt hatte. Julia vertrat seine dauerkranke Assistentin seit vergangenem Freitag und bislang machte sie mehr Arbeit, als sie ihm abnahm.
»Ich weiß nicht, wer es ist.«
»Sagen Sie mir, was er will.«
»Er möchte nur mit Ihnen sprechen.«
Oh Mann.
Rein von der Wahrscheinlichkeit her, musste sie doch auch mal etwas richtig machen, aber sie bewies ihm den gesamten Tag über das Gegenteil.
»Geben Sie ihn mir.« Er lehnte sich zurück und nahm das Gespräch entgegen.
»Ja?«
Jakob hörte zu.
»Das ist doch nicht …«
Der Anrufer fiel ihm ins Wort, etwas, das allenfalls der Chefredakteur wagte – und selbst der tat dies selten. Davon abgesehen war Letzterer seit einer Bandscheiben-OP im Frühjahr außer Gefecht. Ein Glück für Jakob, der dadurch neben dem Einzelbüro auch noch zu einer Assistentin kam, die ihm nicht zustand.
Der leitende Redakteur wirkte irritiert, aber er nahm die Informationen des Fremden auf.
»Sind Sie sicher?«
Er hörte noch ein knappes »Natürlich.« Dann war er allein in der Leitung.
»Julia!« Jakob saß perplex im Sessel. »Stand die Nummer des Anrufers auf dem Display oder haben Sie eine Idee, wer das gewesen ist?«
»Tut mir leid.«
»Mir tut auch eine ganze Menge leid.« Am liebsten hätte er ihr an den Kopf geworfen, dass es ihm leidtut, ihrer Einstellung bei der Zeitung jemals zugestimmt zu haben – aber es gab gerade wichtigere Dinge, um die es sich zu kümmern galt.
»Machen Sie mir einen Latte und bringen Sie ihn in den Besprechungsraum.«
Dann rauschte er aus dem Büro.
»So langsam kotzt ihr mich alle an!« Jakob tobte durch die Redaktion. Die Mitarbeiter vermuteten, dass er aus einem Meeting gekommen sein musste, in dem es für ihn nicht gut gelaufen war. Welches, konnten sie nicht erahnen. Im Gegensatz zu den anderen Vorgesetzten schaltete Jakob den Kalender seines PC grundsätzlich für niemanden frei, der in der Hierarchie unter ihm stand.
»Besprechung in zwei Minuten!«
Barbara kramte in der Tasche nach ihrem Diktiergerät. »Der Pressesprecher von Vattenfall wartet auf mich. Ich bin eh zu spät dran. Gebt ihr mir eine Zusammenfassung dessen, was ihr beredet, wenn ich wieder da bin?«
»Denkt ihr alle, ihr könnt mich verarschen?« Jakob wurde laut.
Die Mitarbeiterin kramte weiter.
»Barbara!«
Sie drehte sich um.
»Du hast es nicht ganz verstanden. In zwei