Die Kunst der kleinen Lösung. Klaus Henning

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Die Kunst der kleinen Lösung - Klaus Henning

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wäre er keine 100 Höhenmeter weiter gekommen. Für ihn wäre der Abstieg lebensbedrohlich geworden. Das ist das Tückische an den Bergen. Plötzlich sagte er: »Klaus, ich glaube, ich habe mir die Finger erfroren.« Er hatte ja keine Handschuhe an, und die Temperatur war inzwischen unter den Nullpunkt gefallen.

      Jetzt mussten wir handeln. Wir rieben seine Hände mit Schnee ab, um sie aufzuwärmen. Wir sprachen ihm gut zu, wir verwiesen auf die Hütte, die nicht mehr weit sei. »Es sind höchstens noch 10 oder 20 Minuten Fußweg, schau, da vorne«, sagte ich ihm. »Das schaffst du!« Doch er wollte nicht mehr. Er konnte nicht mehr. Wir redeten ihm zu, wir versprachen, ihn zu stützen, nahmen ihm den Rucksack ab. Und irgendwie schafften wir es, ihn zum Weitergehen zu bewegen. Wir schleppten ihn mehr, als dass er ging. Mehr als eine Stunde haben wir für den Weg gebraucht. Die Hütte hatten wir immer im Blick. Endlich waren wir oben angekommen. Er war vollkommen erschöpft. Auch an uns hatte dieser Aufstieg gezehrt.

      Wir stolpern über Kleinigkeiten

      In der Hütte wärmten wir uns auf, er aß eine Suppe, wir tranken etwas. Langsam kamen wir wieder zu Kräften. Es war offensichtlich, dass er an diesem Tag an eine Grenze geraten war. Er wirkte immer noch abwesend. Eigentlich ein kräftiger Mann, ein Macher, der vor nichts zurückschreckt. Aber der Berg hatte das anders gesehen. Der Berg hat ihm gezeigt, wie weit man gehen kann – und wie weit nicht. Nach unserem Hüttenaufenthalt schien er gestärkt, er konnte absteigen. Ich ging hinter ihm, ließ ihn nicht eine Sekunde aus den Augen. Schweigend gingen wir dem Tal entgegen. Unten, beim Arzt, gab es Entwarnung: Er hatte sich die Finger nicht erfroren.

      Oft hat man das Große vor Augen und sieht das kleine Hindernis nicht.

      Kleinigkeiten. Wir stolpern über die Kleinigkeiten. Wir haben einen prächtigen Berg im Visier – und verzichten auf Handschuhe.

      Das ist nicht nur am Berg so. Das ist mir in den vergangenen Jahrzehnten zu häufig begegnet. Oft hat man das Große vor Augen und sieht nicht das kleine Hindernis.

      Im Berg kann es tödlich enden. Im Alltag endet es oft im Chaos.

      Die Beobachtung reicht, um ein System zu verändern

      Mir ist es zur Aufgabe geworden, Wege durch das Chaos zu bahnen. Ob als Wissenschaftler, als Unternehmer und vor allem als Berater, immer stand und stehe ich vor der Frage: Wie lässt sich die Komplexität einer Situation, die Komplexität eines Systems meistern? Nicht selten hängt es an einem kleinen Detail. Ein Schraube, die neu justiert wird, ein Gespräch, das geführt werden sollte. Solche kleinen Lösungen zu finden ist nicht einfach. Es sind nicht die »Man muss doch nur …«-Lösungen. Es sind diejenigen kleinen Lösungen, die eine große Wirkung haben. Und nicht so viele unerwünschte Nebenwirkungen. Das setzt aber voraus, dass man die Komplexität und Dynamik einer Situation wahrnimmt.

      Im Berg ist es vor allem die Beobachtung. Man muss das Wetter im Blick haben. Den Weg. Die Bergsteigerkollegen: wie sie atmen, wie sie sich bewegen. Welche Kleider sie tragen. Ob sie Pausen machen. Nur ein kleines Detail kann den Unterschied machen. Und ein Berg verzeiht nichts. Er zeigt dir deinen Fehler sofort. Er kennt kein Pardon für deinen Hochmut.

      Das Wechselspiel zwischen Detail und Ganzem ist komplex. Die kleine Lösung ist nicht einfach.

      Vermeintliche Kleinigkeiten sind auch Pausen. Keiner wird auf einen Berg kommen, wenn er auf Pausen verzichtet. Pausen können zu lang sein, man kann auch zu viele Pausen machen. Das passiert, wenn man zu Beginn losstürmt und dann feststellt, wie sehr man sich überschätzt hat. Es ist ein ständiges Austarieren, um immer das richtige Maß zu finden. Wer Kleinigkeiten außer Acht lässt, riskiert eine Menge. Wenn man das Besteigen eines Bergs als ein System betrachtet, nennen wir es das »System Aufstieg und Abstieg«, und dieses System kann zusammenstürzen, wenn man ein Detail außer Acht lässt. Auch um das System am Laufen zu halten, ist das Detail wichtig. Und der Blick für das Ganze. Es ist das Wechselspiel zwischen dem Detail und dem Ganzen. Der Versuch, alles zu beherrschen und im Griff zu haben, misslingt in der Komplexität. Manchmal muss man mit der Lupe hinschauen. Immer aber ist ein »Hubschrauberblick« nötig, um den Überblick zu behalten. Es geht darum, Komplexität zu meistern, nicht, sie zu beherrschen. Dieses Wechselspiel zwischen dem Detail und dem Ganzen ist nicht einfach. Sie ist auch nicht einfach: die kleine Lösung.

      Berge lehren uns Demut

      Ich würde nicht behaupten, dass ich die Berge verstanden habe. Wer versteht schon die Natur? Berge können fantastisch schön sein und ebenso grausam. Wer einmal gesehen hat, wie in unmittelbarer Nähe mehrere Bergsteiger tödlich abstürzen, weiß, was ich meine. Von einer Sekunde auf die nächste. Berge sind unberechenbar. Sie lehren uns Demut. »Sei dir nicht so sicher«, scheinen sie dir jedes Mal mit auf den Weg zu geben. »Du hast zwar Erfahrung, du hast schon einige Berge erklommen, aber das heißt nicht, dass du alles kannst – weder am Berg noch im Leben.«

      Sie lehren nicht nur Demut. Sie zeigen einem auch, wie man wirklich ist.

      Das Wandern in Bergen, das Bergsteigen, bringt einen näher zu sich selbst. Man erfährt etwas über sich. Wie ist man, was kann man, wie reagiert man, wie geht man damit um, wenn man mit sich selbst konfrontiert ist? Über alldem fühle ich mich als Christ gerade in den Bergen der Schöpfung sehr nahe. Hier zeigt sie sich in ihrer vollen Schönheit, in ihrer Rauheit, in ihrer Erhabenheit, in ihrer Größe. Berge sind Orte, an denen ich zu Gott finde. Der Blick auf Berge, die Stille, das Zurückgeworfen, sein auf sich selbst, da fange ich an zu begreifen. Da bin ich bei mir. Da arbeite ich an mir. Von außen betrachtet mag dieses Trotten dem Gipfel entgegen langweilig erscheinen. Immer ein Schritt nach dem anderen. Erstaunlich ist aber, was sich im Innern abspielt, wie sehr man ins Denken kommt, wie klar man sieht.

      Geht man bergauf, kommt man ins Nachdenken.

      Ich erinnere mich an viele stundenlange Wanderungen. Wenn man in einen Dialog mit sich selbst tritt, wenn man mit sich selbst konfrontiert wird. Und die Erfahrung, wie es ist, schwierige Situationen zu meistern. Situationen, in denen es auf eine Kleinigkeit ankommt. Ich habe beispielsweise immer ein Stück Draht dabei. Ohne diesen Draht mache ich mich nicht mehr auf den Weg.

      Ohne Draht gehe ich nicht auf die Berge

      Und das hat einen Grund: Einmal bin ich in den Schweizer Alpen mit meiner Frau und einem Bergführer auf einen Viertausender gestiegen. Ein großartiges Erlebnis. In den frühen Morgenstunden sind wir los, haben dann gegen Mittag den Gipfel erreicht und genossen, was man auf 4000 Metern genießt: einen grandiosen Blick. Bis dahin war alles gut. Dann stiegen wir ab.

      Während des Abstiegs brach mein Steigeisen an einer Felskante. Wir trugen Steigeisen, weil wir über einen Gletscher und über Eisplatten gehen mussten. Ohne Steigeisen ist das lebensgefährlich. Mein rechtes Steigeisen war nun gebrochen. Eine unangenehme Situation. Zufällig hatte ich ein Stück Draht dabei und konnte das Eisen notdürftig reparieren. So schleppte ich mich mit einem kaputten Steigeisen an den Schuhen über den Gletscher. Schritt für Schritt.

      Es ging gut, irgendwie. Aber seitdem habe ich bei jeder Bergtour, auch wenn sie nicht über Schnee und Eis geht, immer ein Stück Draht dabei.

      Immer.

      Im Grunde lassen sich meine Erfahrungen auf drei Erkenntnisse bringen:

      Das Ganze in den Blick nehmen. Immer wieder sich auf den größeren Zusammenhang konzentrieren und die Fülle der Komplexität wahrnehmen und aushalten.

      Ein Schritt nach dem anderen. Es sind oft Kleinigkeiten, die eine große Unternehmung scheitern lassen.

      Auf die vermeintlichen Kleinigkeiten achten. Und verstehen, ob und welche Auswirkungen sie auf das Ganze haben.

      Dieses

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