Krähentanz. Philipp Schmidt
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Mitten in diesem Strudel von Nässe, dem Schnauben der Pferdenüstern und dem ohnmachtsnahen Zustand, in dem Kraeh sich aufgrund von Anstrengung und der sich überschlagenden Ereignisse befand, zügelte der Lockenkopf unverhofft sein Reittier. Ohne auf die dunstige Wolke der Häscher hinter ihnen zu achten, ließ der Einäugige seinen Wallach an die Spitze tänzeln. Ein Sturmwind, der vermutlich schon länger blies, in der Hast aber Kraehs Aufmerksamkeit entgangen sein musste, brauste durch die Aue, schüttelte die angesammelten Tropfen aus den Baumkronen und fuhr schamlos durch Mark und Bein der Flüchtenden. Durch die verschwommene Sicht war der Mann nicht mehr als ein bleicher Fleck unter dem Stirnband, das seine hellblonden Haare zurückhielt. Die Flöte, welche Otwin zuvor zerstören wollte, kam zum Vorschein. Der Einäugige setzte sie an seine Lippen und entlockte ihr nur einen einzigen hohen Ton, einen Ton allerdings, der die Welt zu verändern schien. Alle Erschöpfung fiel von Kraeh ab. Er fühlte sich plötzlich wie unter dem Einfluss einer unbekannten Droge. Ohne eigenes Zutun setzte das Tier unter ihm sich wieder in Bewegung. Die Rinde der Bäume, der Schlick, durch den die Hufe trabten, der aufrechte Rücken Erkentruds – alles zog wie im Traum an ihm vorüber. Die Soldaten in ihrem Nacken verloren immer mehr an Bedeutung. Es war, als würden der dichte Wald, die Männer, die Pferde sich zurückziehen und nur noch jener eine Ton zurückbleiben. Bald mischte sich das Zupfen eines Saiteninstruments hinzu, bald Themen einer höheren Flöte. Doch waren es bloß Variationen, Ausgestaltungen des einen Grundtons. Kraeh bemächtigte sich das Gefühl, die Melodie mit Händen greifen zu können. Die Wirklichkeit, den eigentlichen Gehalt des Seins, wo er ansonsten lediglich seinen Abglanz in den Dingen wahrzunehmen vermochte, schien auf, heller als die Sommersonne. Tag und Nacht, Mensch und Tier, Forst und Heide fielen in diesem einen, alles Verbindenden zusammen. Wie die Stimme eines Erwachten, die den Schläfer weckt, zog die des Einäugigen den Schleier vor seinen Augen weg. Er blickte sich um. Auch die anderen wirkten, als erwachten sie gerade aus einem tiefen Traum.
»Seht! Der bodenlose See. Dort, wo der Fluss den See nährt, steigt er hinan zu seinen Quellen.«
Die Welt schälte sich, als würde sie sich in ebenjenem Augenblick neu erschaffen. Aus dem All-Einen heraus gewann sie in frischer Unschuld ihre unendlichen Einzelheiten zurück. Von West nach Ost wurde der Horizont von den Riesen des Alben-Gebirges abgeschnitten, deren ehrwürdige schneebedeckten Höhen sich in der klaren Oberfläche des sagenumwobenen Sees spiegelten. Lag es eventuell noch an den Nachwirkungen des Flötenspiels, dass die Dimension dessen, was er sah, ihn schwindeln machte? Die Relationen zwischen der Pappel vor ihm und den gigantischen Fels- und Wassermassen schienen in ihrem Missverhältnis geradezu absurd. Kraeh atmete tief durch und ließ seinem Verstand Zeit, die Eindrücke zu ordnen.
»Die Quellen des Rheins?«, fragte Arduhl ungläubig. »Wir sind doch nicht mehr als … als … einen halben Tag unterwegs … oder?«
»Ach wirklich?«, gab der Einäugige lächelnd zurück. »Jedenfalls scheint es mir an der Zeit für eine Rast. Die Tiere sind müde.«
Kraeh begutachtete sein Pferd. Es schien tatsächlich abgeschafft. Kalter Schweiß glänzte auf dessen Fell.
In einer steinigen Bucht fanden sie einen geeigneten Rastplatz, teilten ihre spärlichen Vorräte mit den Tieren und entzündeten ein Feuer. Es war nicht das einzige. Viele Feuer ließen ihre Funken an diesem Abend rings um den großen See herum in den aufgeklarten Himmel fliegen.
»Peuten, Uthen und Gaesen«, nannte der Lockenkopf die Namen der Stämme, die Kraeh gewohnt war, unter der Einheitsbezeichnung Firsen zusammenzufassen.
Plaudernd saßen sie um die Flammen, eine Flasche Branntwein kreiste und wärmte sie zusätzlich von innen. Arduhl, dem es gelegen kam, nicht über politische Themen zu sprechen, erläuterte den Spielleuten, weshalb er als Einziger in ihrer Runde auf den Branntwein verzichtete. In gutmütiger Manier zogen sie ihn ein wenig damit auf, aufmerksam darauf bedacht, seine Religiosität, auf die seine Enthaltsamkeit zurückging, dabei nicht wirklich anzugreifen. Lachend erhob sich der Einäugige, ging zur anderen Seite des Feuers und setzte sich zwischen Kraeh und Erkentrud, deren Augen immer wieder auf ihm geruht hatten.
»Fragt«, bot er ihnen gut gelaunt an.
Der Alte ließ Erkentrud den Vortritt. »Erst einmal: dein Name?« Tatsächlich, fiel Kraeh jetzt auf, hat er sich noch gar nicht vorgestellt. Keiner hatte das bisher getan. Erkentrud hatte sicher recht, wenn sie hinter diesen seltsamen und redegewandten Spielleuten mehr vermutete, als der erste Blick vorgaukelte.
»Wenn man alt ist, so alt wie ich«, sagte der Mann in seiner den Ohren schmeichelnden Sprechweise, »geben einem die Menschen viele Namen. Davon kann auch Kraeh ein Lied singen …«
»Woher …?«
»Kinder!«, unterbrach er ihn, »es gibt wenig, was ich nicht über euch weiß. Aber zurück zu deiner Frage«, er wandte sich wieder Erkentrud zu, »am besten gefiel mir schon immer Wanderer. Es trifft meine Natur und hat einen schönen Klang.«
»Du bist kein einfacher Zauberer«, stellte die Königin fest. Sie wollte noch etwas sagen, hatte aber den Faden verloren. Ihre Züge wurden traurig, wie sich ihr Blick in den Flammen verlor.
»Nein, bin ich nicht«, stimmte der Wanderer Erkentrud zu, obwohl sie schon nicht mehr verstand, warum es ging, »aber wer vermag schon zu sagen, was er wirklich ist?«, schob er in einer Weise nach, die nahelegte, dass er es von sich ziemlich genau wusste. Auf eine Geste reichte einer seiner Kameraden ihm ein Zupfinstrument. Er strich sich die goldenen Haare, die ihm aus dem Stirnband gefallen waren, hinter die Ohren und schon tänzelte seine andere Hand über die Saiten. Sein Lied war eine Geschichte und Kraeh brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es seine eigene war. Jene, die er selbst schon erzählt hatte. Wie lange war das her? Und wie verblichen erst ihr Inhalt!
»Und schwarze Schwingen im Wind«, schloss die Weise und der Wanderer zwirbelte gedankenverloren an seinem Bocksbart, der etwas zerzaust von seinem Kinn abstand. Erst jetzt bemerkte Kraeh das Schnarchen des Lockenkopfes, das gleichmäßige Atmen von Arduhls leichtem Schlaf und das Keuchen Erkentruds, das die Albträume, die sie plagten, widerspiegelte. Sie waren zu zweit.
»Wohl eine langweilige Geschichte«, scherzte Kraeh, aber ein Unterton in seiner Stimme strafte seine Leichtigkeit Lügen.
»Nur weil man ihre Wahrheit vergessen hat«, erwiderte sein Gegenüber ernst, legte das lautenartige Ding beiseite und verkündete, dass auch er nun reif für etwas Erholung sei. Wachen seien allerdings nicht notwendig, dafür habe er gesorgt. »Eines noch«, gähnte er, während er sich bereits auf seiner Schlafstatt ausstreckte, »falls dich die alten Zeiten keinen Schlaf finden lassen und dich womöglich die Wanderlust packt, gehe überallhin, bloß nicht dort hinaus.« Sein ausgestreckter Arm, an dem sich unzählige Reife klirrend um das letzte Stück freie Haut balgten, deutete auf ein schummriges Licht am Uferrand.
Wenig später befand Kraeh sich auf dem Weg. Fast meinte er, das Lachen des Einäugigen in seinem Kopf zu hören. Was für ein dummes Spiel, dachte er sich. Jetzt musste er natürlich nachsehen, was ihn in dem allmählich Konturen annehmenden Häuschen erwartete, von dessen Schornstein ein dünner Faden Qualm wie von einer gespreizten Hand aufstieg.
* * *
Behutsam pirschte Kraeh sich an, so gut seine alten Knochen