Krähentanz. Philipp Schmidt
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Niemals hätte er dem Bolzen der schweren Armbrust rechtzeitig ausweichen können, die im Schoß eines monströsen Wesens lag und auf seine Brust zielte. Es saß einbeinig auf einem Schaukelstuhl, seine Haut im Schein der Kerze schien aus verwittertem Granit zu bestehen, die Hörner auf dem Schädel wippten im Takt des Stuhls.
»Siebenstreich!«, rief Kraeh voller Erstaunen.
Jetzt erkannte auch der Troll den Eindringling. »Bist du es, Kriegskrähe?«
»Aye, mein König. Ich bin es.«
Immer noch im Schreck, da er den Anblick der gewaltigen Gestalt nicht mehr gewohnt war, sah er dabei zu, wie Siebenstreich die Armbrust entspannte und neben sich an die Wand lehnte.
Gerade als Kraeh sich gänzlich gefasst hatte, fauchte das Schwanenweibchen erneut. Jemand musste ihm gefolgt sein. Kurz darauf trat Erkentrud ein. Sie grüßte den Troll und setzte sich ohne jede Furcht wie selbstverständlich an den Tisch zur Rechten des ehemaligen Königs, obwohl sie ihn keineswegs zu erkennen schien. Kraeh verharrte unsicher.
Siebenstreich bat ihn mit einem entschuldigenden Wink auf sein fehlendes Bein, ihm ein Döschen von einer Ablage zu reichen. Kraeh tat es. Der Troll öffnete das Döschen und entnahm ihm zwei Pfeifen, stopfte sie mit Tabak und bot die eine Kraeh an. Er nahm sie dankend entgegen und setzte sich ebenfalls an den Tisch. Während sie pafften und Erkentrud etwas Unverständliches von riesenhaften Schweinen faselte, sahen sich die zwei alten Freunde unverblümt in die Augen. Beide erwogen sie Sinn und Zweck dieser Begegnung, die kein Zufall sein konnte.
Schließlich brach der Troll das Schweigen. »Eine Verrückte, ein Greis und ein Krüppel – ich habe es stets geliebt, die Prominenz der Welt unter meinem Dach zu versammeln.«
Kraeh lachte und war froh, dass Erkentrud einfiel, offensichtlich ungerührt von der Anrede Siebenstreichs, der ihren Geisteszustand erstaunlich schnell erraten hatte.
Der Scherz hatte die Verlegenheit nur kurz vertrieben. Sie hatten sich in Zeiten des Krieges kennengelernt, waren Schwertbrüder gewesen und erst jetzt fiel ihnen auf, dass die Umstände ihnen immer die Gesprächsthemen vorgegeben hatten. Nun, als ausrangierte Überreste längst vergangener Legenden, waren sie sprachlos in Ermangelung einer gemeinsamen Sache. Gerne hätten sie höfliche und banale Worte ausgetauscht, wie sie glaubten, dass andere Leute es taten, die sie sich nach langer Zeit wiedersahen. Aber sie waren keine einfachen Leute, sondern Regenten und Krieger. So berichtete Siebenstreich nüchtern, wie er Zeuge von Heikhes Entmachtung hatte werden müssen, wie er nach dem Zerfall der Rheinlande sich hierher zurückgezogen und einbeinig, wie er war, dem Stammeshäuptling dieses Gebietes im Zweikampf das Schwert aus der Hand geschlagen, dessen Leben aber verschont hatte. Nachdem dieses Ereignis sich herumgesprochen hatte, sei Frunda, der Kriegsherr der Gaesen hier erschienen und habe ihm versichert, keiner der ansässigen Stämme, die sämtlich unter seiner Schirmherrschaft stünden, würde ihn je wieder belästigen. »Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, ist er der Bruder deines Freundes Sedain. Wohl auch deshalb war er so großzügig, weil er von unserer beider Verstrickungen gehört hatte.«
Kraeh fuhr es unwillkürlich kalt den Rücken herab bei der Erwähnung des Namens.
»Hast du eine Ahnung, wo er steckt, wenn er nicht bei seinen Brüdern ist?«
Siebenstreich nahm einen tiefen Zug, der ihn zum Husten brachte. Ein Laut, wie aufeinanderreibende Felsen.
»Frunda wollte nicht über ihn reden.« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Ich glaube, wenn sie sich begegneten, würde einer den anderen töten. Die Fischer aber, die ich zuweilen für den Tabaknachschub aufsuche und die jede noch so unbedeutende Geschichte aufsaugen wie eine Wüste den Regen, munkeln, er sei in Dundolch und habe sich den Kruken angeschlossen.«
Endlich etwas, das Kraeh seit Langem beschäftigte und zu dem er sich nun eine eindeutige Erklärung erhoffen konnte. »Was genau hat es denn mit dieser Religion der Kruken oder Kruki auf sich? Ist es nicht der Eingottglaube, den wir schon vor so vielen Jahren bekämpft haben?«
Der Troll fuhr sich über die linke ergraute Augenbraue, so wie er es früher gern getan hatte, wenn eine Belehrung anstand. »Bei jeder Glaubensrichtung muss man die Unterscheidung treffen, an wen sie sich richtet. Die alten Vielgötterglauben zielten in der Hauptsache auf eine kleine Oberschicht ab, meist auf die Kriegerkasten.
Diese Zeit ist anders. Moneden wie die Sihhila und die Kruken haben es geschafft, ein System auszuarbeiten, dessen Wirkungsmacht sich durch alle Bevölkerungsschichten zieht. In ihrer Ausrichtung auf das Jenseits versprechen sie dem Bauer auf seinem Acker das Gleiche wie dem König auf seinem Thron. Der Grundtenor allerdings, zumindest bei den Kruken, ist dasselbe alte Lied, das wir schon damals zu verachteten pflegten. Sie beschwören, alles, was Freude bereitet, sei allein deshalb schon schlecht. Glaube mir«, Siebenstreich zwinkerte, »die können ihr Gemächt nicht anfassen, ohne Schuldgefühle zu bekommen.« Da beide sich beide gleichzeitig an den Eiern kratzten – eine Alltagsgeste damals in der bunten Halle –, lachten sie. Erkentrud lachte wieder schrill mit. Zuvor hatte sie die ganze Zeit über in die Flamme der Kerze gestarrt, als ob sie versuchte, sie mittels Gedanken- oder Zauberkraft zum Erlöschen zu bringen.
»Wie alt«, besann Kraeh sich, »ist dieses Lied eigentlich wirklich? Ich erinnere mich dunkel an eine wesentlich fernere Vorgeschichte.«
»Du hättest lesen sollen, als du die Gelegenheit dazu hattest«, wurde er streng zurechtgewiesen. »Jetzt ist es zu spät.« Ein resignierender Unterton lag auf einmal in der Stimme des Trolls, der Kraeh Angst machte.
»Ein Teil von Heilwigs Bibliothek wurde doch gerettet«, sagte der Greis schnell. Drei Rauchringe, die in ihrer perfekten Form für einige Übung sprachen, schwebten auf ihn zu.
»Verschone mich, Kraeh. Ich bin müde.«
»Ich dachte, Trolle werden alt«, versuchte er, den Freund zu entwaffnen, der tatsächlich sehr müde wirkte.
»Ich bin alt«, kam die schlichte Antwort und Kraeh wusste, dass er diesen Kampf verloren hatte.
Im Folgenden bot Siebenstreich, der nun nur noch bei seinem Geburtsnamen Fjönir angesprochen werden wollte, ihm umständlich, aber beharrlich an, sich mit ihm hier niederzulassen. »Die Welt braucht uns nicht mehr«, wiederholte er schwermütig. »Dieses Faktum musst du akzeptieren, sonst endest du mit dem Messer eines Strauchdiebes zwischen den Rippen.«
Erkentrud stieß unpassend ein frenetisches Gelächter aus. »Ich denke, sie wird bleiben«, sagte der weise Troll und streckte ihr dabei seine klauenartige Hand entgegen, die sie zaghaft annahm.
Kraeh sah dem Freund wie zum Eingang des Gesprächs tief in die trüben Augen. Erneut überkam ihn tiefe Traurigkeit. »Ich muss weiter. Zu viele Rätsel sind ungelöst.«
»Aye«, ahmte Siebenstreich ihn nach. »Aber die Welt wird immer nur aus Rätseln bestehen, wenn man es genau betrachtet. Allein, ich bin das Herumraten leid.«
Kraeh stand auf. Auch jetzt hätte er gerne wieder etwas gesagt, dass seine freundschaftlichen Gefühle ausdrückte, aber sie waren Krieger und Regenten. Er deutete erst vor Erkentrud,