Examens-Repetitorium Familienrecht. Martin Lipp
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Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“ › 3. Elternrecht und Elternpflicht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG)
3. Elternrecht und Elternpflicht (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG)
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Obschon sich für die Eltern das Recht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG automatisch infolge ihrer rechtlichen Verwandtschaftsbeziehung (§§ 1591 ff.) zum Kind ergibt, ist das Elternrecht von einer eigentümlichen, sonst nicht bekannten Rechtsstruktur geprägt. In allen Erscheinungsformen hängt das Recht der Eltern seinem Bestand und Umfang nach davon ab, dass diese ihrer elterlichen Pflicht tatsächlich nachkommen wollen und nachkommen können. Man spricht von einem „Pflichtrecht“ und meint damit ein pflichtgebundenes Recht, das in erster Linie dem Kindeswohl gewidmet ist. Damit soll die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck gebracht werden, dass nicht etwa das Kind Objekt des elterlichen Rechts ist, sondern sein Wohl der Maßstab für dessen Ausübung. Die Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung ist konstitutives Element des von den Eltern insoweit in Anspruch genommenen Rechts.[124] Wo die Eltern ihrer Pflicht gegenüber dem Kind nicht gerecht werden (können), weicht ihre Rechtsstellung. Im Konfliktfall geht es dann nicht um jeweils individuell zugewiesene, im Einzelfall kollidierende Interessen (Rechte) zwischen Eltern und Kind, sondern es verbleibt den Eltern keine Rechtsstellung mehr, wenn sie der ihnen „zuvörderst […] obliegenden Pflicht“ (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) nicht nachkommen. Es ist deshalb konsequent und mit Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar, wenn sogar die statusrechtliche Stellung der „Elternschaft“ gegen den Willen des betroffenen Elternteils aufgehoben werden kann (z.B. Ersetzung der elterlichen Einwilligung bei Adoption des Kindes, § 1748 Abs. 1).[125]
Erster Teil Grundlagen › § 2 Verfassungsrechtliche Implikationen › III. „Eltern“ und „Elternrecht“ › 4. „Kindesgrundrecht“ auf Erziehung
4. „Kindesgrundrecht“ auf Erziehung
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In seiner Entscheidung vom 1.4.2008 ist das BVerfG einen weiteren Schritt über seine bisherige Auslegung des Art. 6 Abs. 2 GG hinausgegangen.[126] Anknüpfend an seine Rechtsprechung zum Elternrecht als einem stets am Kindeswohl orientierten, „dienenden“ Grundrecht stellt das BVerfG fest:
„Mit dieser […] Pflicht (sc.: der Eltern gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) […] korrespondiert das Recht des Kindes auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG. […] die Elternverantwortung [ist] allein dem Wohle des Kindes verpflichtet wie geschuldet, [… deshalb] hat das Kind auch einen Anspruch […] und ein Recht darauf, dass seine Eltern der mit ihrem Elternrecht untrennbar verbundenen Pflicht auch nachkommen“.[127]
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In der Literatur wurde die Entscheidung als erstmalige Formulierung eines eigenständigen Kindesgrundrechts auf Erziehung gewertet.[128] Ob dieser Schluss dem Urteil tatsächlich zu entnehmen ist, ist allerdings sehr zweifelhaft. Fest steht, dass das BVerfG das Kind als selbstständigen Grundrechtsträger seit langem anerkannt hat.[129] Dieses Grundrecht richtet sich als Anspruch gegen den Staat auf Wahrnehmung seines Wächteramtes gemäß Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Was ein Grundrecht des Kindes „auf Pflege und Erziehung durch seine Eltern“ darüber hinaus beinhalten und leisten kann, bleibt unklar. Denn entscheidend für das Kind sind die positivrechtlichen Konkretisierungen des Elternrechts im Sinne subjektiver Rechte des Kindes auf Erziehung durch die Eltern (§§ 1626, 1684), wobei das Kindeswohl leitender Maßstab ist (§ 1697a). Dementsprechend hat das BVerfG eine zwangsweise Durchsetzung des Umgangsrechts gegen den Willen eines Elternteils als verfassungswidrig angesehen, weil ein erzwungener Umgang nicht kindeswohldienlich sei.[130] Der durch eine Zwangsmittelandrohung bewirkte Eingriff in das Grundrecht des Elternteils auf Schutz der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) sei insoweit nicht gerechtfertigt, es sei denn, es gibt im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte, die darauf schließen lassen, dass ein erzwungener Umgang dem Kindeswohl dienen wird (vgl. dazu noch Rn. 726).
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Demgegenüber hinterlässt das Urteil des BVerfG eine Reihe offener Fragen und eine merkwürdige Wertungsdissonanz. Unklar bleibt, gegen wen sich das Grundrecht des Kindes richten soll. Was bedeutet ein grundgesetzlicher Anspruch auf Erziehung des Kindes „durch seine Eltern“? Ist Adressat – herkömmlicher Dogmatik entsprechend – der Staat, der diesem Recht dann in Ausübung seines Wächteramtes durch Maßnahmen der Jugend- und Familienhilfe und durch positivrechtliche Konkretisierung der Elternverpflichtung zum Durchbruch zu verhelfen hat? Dafür spricht nicht nur generell die Grundrechtswirkung im Verhältnis Staat–Bürger, die der Annahme eines grundrechtlichen Kindesanspruchs gegen die Eltern als Verpflichtete entgegensteht, sondern auch die Formulierung eines Rechts des Kindes auf Erziehung „durch seine Eltern“ (nicht: „gegen seine Eltern“).
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Offen bleibt ferner, welche materiell-inhaltliche Überlegung dieses (besondere) Kindesgrundrecht trägt, wo sein originärer Kern liegt. Einerseits spricht das Gericht davon, dass dieses Recht des Kindes „in der elterlichen Verantwortung seinen Grund“ finde (also doch ein im „Pflichtrecht“ der Eltern wurzelnder Anspruch?), andererseits stehe dieses Kindesrecht in engem Zusammenhang mit dem (schon immer vorhandenen) Grundrecht auf Schutz seiner Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG.[131]
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Auch die wertungsmäßigen Positionen des Gerichts zu akzeptieren, fällt nicht leicht. Ein Elternteil, der eine zuvor beschriebene, grundlegende Verpflichtung seinem Kind gegenüber gröblichst verletzt, darf für dieses Verhalten als „Ausdruck des individuellen Verständnisses von Elternschaft“ verfassungsrechtlichen Schutz gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Anspruch nehmen – mit Vorrang gegenüber dem Kindesgrundrecht. Mag die zwangsweise Vollstreckung eines Umgangstitels (in Übereinstimmung mit dem BVerfG) auch dem Kindeswohl nicht zuträglich und/oder nicht möglich sein, so erscheint es doch bemerkenswert, wenn gravierende Rechtsverstöße als grundgesetzlich geschützte Entfaltung der individuellen Persönlichkeit gewertet werden.
Anmerkungen
BVerfG, NJW 1968, 2233; gleichlautend BVerfG, NJW 1971, 1509 (keine bloße Wesensgehaltskontrolle nach Art. 19 Abs. 2 GG).
Kingreen/Poscher, Grundrechte – Staatsrecht II, 362020, Rn. 766 f.