Der Waldläufer. Gabriel Ferry
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Dann verschwand dies alles vor den Augen Tiburcios; das junge Mädchen kehrte nach Hause zurück. In ebendiesem Haus brachte er eine ganze Woche zu, trunken vor Liebe, aber ohne es zu wagen, seine Wünsche bis zu der, die er liebte, zu erheben. Bei den Festen der ihrer Wohnung nahe liegenden Dörfer hatte er sie hundertmal wiedergesehen, ohne mutiger zu sein, denn er war ja so arm! Aber jetzt … Tiburcio sah sich mächtig und reich und hoffte; dann fingen seine Augenlider an, schwer zu werden, und er schlief ein mitten in holden, schönen Träumen. – Ist es nötig, zu sagen, daß das junge Mädchen, das seine Erinnerung ihm wieder vorführte, die Tochter Don Agustin Peñas war und das fragliche Haus die Hacienda del Venado? —
Bei Anbruch des Tages wurden alle Schläfer aufgeweckt durch den Ton eines Glöckchens und den Widerhall der Hufe einer Cavalcada. Es war Benito, der die erschreckte Schar der Pferde seinem Versprechen gemäß zurückbrachte. Alle Reisenden waren sogleich auf den Füßen; aber vergeblich suchten sie die beiden Jäger; sie waren nicht mehr da und hatten sich, ohne daß jemand sie gehört hätte, entfernt.
Nachdem die Pferde gesattelt, die Maultiere beladen waren, setzte der Zug seinen Weg nach der Hacienda fort. Der Senator und Don Estévan ritten voran, während Tiburcio, der sich genötigt fand, hinter Cuchillo aufzusitzen, da diesmal kein Sattel für ihn leer war, ihnen mit Baraja folgte; dann kamen endlich die drei Diener. Die beiden Reiter waren also abermals zusammen auf demselben Weg. Der eine dachte daran, wie er die Entdeckung des Val d‘Or nur gegen das feierliche Versprechen, Arellanos zu rächen, erkauft hatte; der andere sann auf Mittel, sich Tiburcios bei erster Gelegenheit zu entledigen.
Der Tag wich eben der Nacht, als sich nach einem langen Marsch die Gebäude der Hacienda del Venado in der Ferne abzeichneten, schon verdunkelt durch die Abenddämmerung. Einige Zeit hindurch folgte der Zug noch einem durch die Wälder sich hinziehenden Weg.
In dem Augenblick, als der Zug den Wald verließ, um in die Ebene einzulenken, in deren Mitte sich die Hacienda erhob, traten zwei Männer aus dem Dickicht heraus, die Büchse in der Hand. Es waren die beiden Jäger, die am Morgen so plötzlich Abschied genommen hatten.
»Du hast dich durch irgendeine Ähnlichkeit verführen lassen«, sagte der ältere der beiden Jäger – das heißt der Kanadier – zu Dormilon.
»Ich bin meiner Sache gewiß, sage ich dir; er ist es! Fünfzehn Jahre haben nichts in seinem Aussehen und seiner Haltung geändert. Der Ton seiner Stimme ist der gleiche geblieben als zu der Zeit, da ich noch der Küstenwächter Pepe der Schläfer war. Aber seit fünfzehn Jahren haben ebensowenig meine Ohren noch meine Augen etwas vergessen. Also, Bois-Rosé, du kannst sicher glauben, was ich dir beteuere.«
»Übrigens«, sagte Bois-Rosé, »hat man vielleicht diesen Namen nicht vergessen; man begegnet öfter dem Feind, dem man entflieht, als dem Freund, den man sucht.« Nach diesen Worten stützte der kanadische Jäger sich mit melancholischer und nachdenklicher Miene auf den langen Lauf seiner Büchse und verfolgte wieder mit dem Auge die Reisenden, die bald hinter den Mauern der Hacienda verschwanden.
Die untergehende Sonne hüllte den Abend in purpurnen Nebel. Die einen Augenblick erleuchteten Hügel versanken in die gleichmäßige Farbe der Dämmerung, und die beiden Jäger, die ihre waldige Wohnung wieder betreten hatten, verschwanden ihrerseits in deren nächtlich dunklem Schatten.
11. Die Hacienda del Venado
Die Hacienda del Venado war – wie alle Wohnungen dieser Art an der indianischen Grenze, die den Einfällen umherschweifender Horden in diesen Steppen ausgesetzt sind – ebensowohl eine Art Festung als ein Landhaus. Aus Backsteinen und Werkstücken erbaut, von einer mit Schießscharten versehenen Terrasse umgeben, durch massive Tore verschlossen, konnte sie eine Belagerung durch Feinde aushalten, die erfahrener in der Kriegskunst waren als die benachbarten Stämme der Apachen.
An einer Ecke erhob sich ein ebenfalls aus Werkstücken erbauter Turm, über drei Stockwerke hoch, der die an die Hacienda stoßende Kapelle überragte. Dieser Turm konnte noch, falls der Hauptteil der Wohnung erobert war, ein fast uneinnehmbarer Zufluchtsort sein.
Endlich umgab noch starkes Pfahlwerk aus Palmenholz das Gebäude ganz und gar ebenso wie die Gesindewohnungen, die für die Leute und die Diener der Hacienda, für die Vaqueros und die gewöhnlichen Gäste bestimmt waren, die auf ihrer Vorbeireise von Zeit zu Zeit kamen und um gastliche Aufnahme baten. Außerhalb dieser bevorzugten Umwallung bildeten etwa dreißig Hütten eine Art kleines Dorf, bewohnt durch die Peones und ihre der Hacienda einverleibten Familien, die in Tagen der Gefahr Schutz und Zuflucht in der Festung suchen konnten und dann zugleich die gewöhnliche Besatzung verstärkten.
Das war die Hacienda, in die wir vor den Reisenden, die wir auf dem Weg gelassen haben, eintreten wollen.
Der Eigentümer, Don Agustin Peña, war ein reicher Mann. Außer einer reichen Goldmine, die er gar nicht weit von hier ausbeutete, besaß er noch zahllose Herden großen und kleinen Viehs, Pferde, Maultiere und Stiere, die frei umherliefen, sprangen und brüllten mitten in den ungeheuren Savannen oder den tiefen Wäldern, die die zwanzig Quadratmeilen Land, die zur Hacienda gehörten, bedeckten. Eine gleich ausgedehnte ländliche Besitzung ist nicht selten in einem Land, wo viele Besitzungen so groß sind wie ein Departement in Frankreich.
Indes sprach man von Guaymas bis an diese Grenzen nur vom Reichtum Don Agustins und von der unermeßlichen Mitgift, die seine Tochter Doña Rosaria, die liebliche Rosarita, demjenigen zubringen würde, den sie zum Gatten wählte. Das junge Mädchen war auch das Ziel gar manchen Ehrgeizes. Übrigens hätte schon seine Schönheit – auch ohne das Vermögen, das es nach dem Tod des Vaters bekommen mußte – vollkommen genügt, um all diese Ansprüche zu rechtfertigen.
In diesen entfernten Provinzen hat sich gewöhnlich der andalusische Typus schwächer ausgeprägt; aber er hatte bei Rosarita nichts von seiner Charakteristik verloren, und durch einen glücklichen Gegensatz vereinigte sich die Reinheit der Züge mit der Frische der Mädchen des Nordens. Die rosigen Wangen der Tochter Don Agustins gaben ihren schwarzen Augen und dem Kranz schwarzer Haare, der ihr Haupt schmückte, nur noch mehr Glanz; die glühende Sonne hatte ihren weißen Teint nicht berührt. Mit einem Wort, ihre Hände, ihre Füße, ihre Taille und jene Haltung, die, nach dem andalusischen Ausdruck »Derrama sal y perdona vidas«,Eine wörtlich nicht zu übersetzende Redeweise: »Streut Salz aus und spart das Leben.« Es kommt vom Wort »Salero«, das dazu dient, die stolze Haltung der Andalusierinnen beim Gehen auszudrücken. »Salz und Leben ausstreut«, verbanden sich bei ihr mit den Vorzügen des europäischen Blutes. Nach solcher Lobrede würde jede Beschreibung überflüssig sein. Sie war also inmitten dieser Einöden wie die Kaktusblume, die nach einer Sage aufblüht und stirbt von elf Uhr bis Mitternacht, unter den Augen Gottes allein, ohne daß es irgendeinem menschlichen Auge gegeben wäre, ihre Farbenpracht zu bewundern, ohne daß jemand an ihrem Duft sich hätte ergötzen können.
Die unermeßliche Ebene, in deren Mitte die Hacienda del Venado lag, bot einen doppelten Anblick dar: Derjenige Teil, der an der Vorderseite des Gebäudes lag, zeigte allein Spuren einer hohen Kultur. Unübersehbare Maisfelder und weitläufige Olivenpflanzungen offenbarten die Gegenwart und die Arbeiten des Menschen. Hinter der Hacienda, aber nur einige